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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Bewegung den Ast entlang andere Neugeborene versehentlich berührte, wirkten sie manchmal, als wäre ihnen das unangenehm, und ein- oder zweimal hatte er mitbekommen, wie sie sich anschließend mit wildem Eifer putzten. Und genau das schmerzte ihn am meisten, denn es war ihm klar, dass sie so etwas nicht taten, um ihn zu verletzen, sondern weil sie ernsthaft befürchteten, jetzt von einem grässlichen Parasiten heimgesucht zu werden.
    Vielleicht würde sich das mit der Zeit ändern, doch im Moment war Sylph seine einzige Freundin. Als sie den Stamm hochkletterte, kletterte Dämmer mit ihr.
    »Was machst du da?«, fragte sie und hielt an.
    »Ich leiste dir Gesellschaft.« Er dachte, das wäre das Mindeste, was er tun könnte.
    »Lass nur«, sagte sie. »Wir brauchen dann nur länger nach oben. Auf der Rinde bin ich schneller als du.«
    »Ich weiß, aber …«
    »Flieg nur, Dämmer.« Sie klang fast schon gereizt. »Du kannst fliegen, also fliege.«
    »Ist das dein Ernst?«
    »Wenn ich fliegen könnte, glaub mir, dann würde ich fliegen.«
    »Ist gut. Danke. Vielen Dank.«
    Er flatterte neben ihr zwischen den Ästen durch und versuchte, nicht zu weit vorauszufliegen.
    Als sie am Schlafplatz von Jibs Familie vorbeikamen, rief der ihnen zu: »Sylph, kommst du mit jagen?«
    »Dämmer und ich gehen weiter nach oben«, rief sie zurück.
    »Da oben ist das Jagen nicht so toll«, sagte Jib. Er blickte Dämmer nicht einmal an. »Ich suche jetzt Aeolus. Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«
    »Nein, danke«, sagte Sylph kühl.
    »Geh ruhig mit ihnen, wenn du willst«, sagte Dämmer, während sie den Mammutbaum weiter hinaufstiegen.
    Sylph schüttelte den Kopf. »Ich mag die Art nicht, wie er mit dir spricht.«
    »Der spricht überhaupt nicht mehr mit mir. Das ist eine nette Abwechslung, wirklich.«
    »Du weißt genau, was ich meine.«
    Dämmer sagt nichts darauf und bewunderte nur die Loyalität seiner Schwester. Warum sie mit Jib befreundet war, hatte er nie verstanden, doch die beiden waren die längste Zeit ihres jungen Lebens befreundet gewesen, und er wollte ihr nichts kaputt machen, besonders nicht, da sie so nett zu ihm war. Er wünschte, er könnte ihr von dem Sauriernest erzählen, das er gefunden hatte. Das Geheimnis lag ihm im Magen, als hätte er einen Stein verschluckt.
    Er landete auf dem Oberen Holm und bemerkte überrascht, dass da bereits Aeolus war. Er hockte zusammengekauert auf dem äußeren Ende.
    »Hi!«, rief Dämmer bei der Landung. »Jib sucht dich unten …«
    »Dämmer«, rief seine Schwester nun von unten, »Da ist was …« Ihre Stimme verlor sich, doch ihr Ton jagte Dämmer einen Schauer über den Rücken.
    »Was ist los?« Er beugte sich über den Rand des Holms und blickte nach unten. Sylph befand sich dicht am Stamm und starrte auf etwas, das sich außen auf ihrem Ast befand. Da lag eine Art riesiges dunkles Blatt, wie er noch nie eines gesehen hatte. Mit Sicherheit stammte es nicht vom Mammutbaum.
    Dann schaute er genauer hin und richtete sein Echosehen auf die Oberfläche. Das Blatt war ungewöhnlich dick und hatte eine Oberfläche fast wie … Fell. Sein Mund war plötzlich ausgedörrt. Sylphs schwere Stimme erreichte ihn wie von weit her.
    »Dämmer, glaubst du …?«
    Es gab kaum etwas, das er besser kannte, doch es war hier so schrecklich fehl am Platz, wie es da alleine ausgebreitet auf der Rinde lag.
    Es war das linke Segel eines Chiropters, abgetrennt von seinem Körper. Der Armknochen war aus dem Gelenk gerissen worden und ragte unter der zerfetzten Membrane hervor.
    Er sah zu Sylph, die näher herangekrochen war, um es zu untersuchen. Ihre Blicke trafen sich und dann wandte er sich zitternd wieder dem Oberen Holm zu.
    »Aeolus?«, rief er.
    Der Chiropter rührte sich nicht. Dämmer ging näher zu ihm. Sein Herzschlag pochte tief und hart in den Ohren. Aeolus sah irgendwie falsch aus. Sein Körper wirkte dünn und welk.
    Dämmer hielt an. Er brauchte nicht weiterzugehen, um zu sehen, dass Aeolus tot war und dass seine beiden Segel ausgerissen worden waren.
    Aus den Ästen über ihnen erklang plötzlich wieder der Gesang der Vögel, Hunderte von ihnen kreischten erneut den Refrain des hämischen Morgenlieds:
    »Komm und sieh! Komm und sieh den Lauf der Dinge!«
    Klagende Schreie und Knurren stiegen von der Menge der Chiropter auf, die sich um den Körper des Neugeborenen versammelt hatte. Aeolus war zum Nest seiner Familie nach unten gebracht worden und ein fast erstickender

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