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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Geruch von Furcht und Wut erfüllte nun die Morgenluft. Dämmer spürte sein Herz schlagen wie noch niemals zuvor. Von der allgemeinen Wut seiner Kolonie mitgerissen, spannten sich seine Kiefermuskeln an und ein tiefes Fauchen stieg aus seiner Kehle. Seine Haare waren vom Nacken bis zum Schwanz gesträubt.
    Aeolus’ Eltern kauerten ganz dicht bei dem geschundenen Körper, zusammen mit Barat, dem Großvater des Neugeborenen. Nachdem er Aeolus untersucht und leise mit den Eltern und den anderen Ältesten gesprochen hatte, blickte Dämmers Vater auf und wandte sich an die Kolonie. Seine kräftige Stimme durchschnitt den allgemeinen Lärm.
    »Die Wunden sind das Werk von Vogelschnäbeln. Das steht außer Frage«, sagte Ikaron. »Aeolus ist nicht als Nahrung gejagt worden. Seine Segel wurden vorsätzlich abgetrennt. Das war eindeutig Mord.«
    Dämmer fühlte sich elend. Der Zweck des bedrohlichen Morgengesangs der Vögel war ihm nun erschreckend klar. Er sollte Aeolus’ Schmerzensschreie übertönen.
    »Warum?«, ertönte es gequält, erst aus einer, dann aus Dutzenden von Kehlen.
    »Aber warum?«
    »Warum haben sie das getan?«
    Dämmer beobachtete seinen Vater genau, sah, wie er zum Sprechen ansetzte, dann aber zögerte. Nova richtete sich auf den Hinterbeinen auf und breitete die Segel aus, um auf sich aufmerksam zu machen.
    »Die Vögel wollten uns eine Botschaft zukommen lassen!«, schrie sie. »Sie haben diesem Neugeborenen die Segel genommen, seine Fähigkeit, sich durch die Luft zu bewegen. Sie sagen damit, der Himmel gehört ihnen und nur ihnen allein.«
    Dämmer sog die Luft ein und hatte doch das Gefühl, als könnten seine Lungen den Atem nicht aufnehmen.
    »Das ergibt keinen Sinn«, sagte Barat zornig. »Wir sind nie in ihren Himmel eingedrungen. Wie hätten wir da ihre Herrschaft gefährden können?«
    »Als Gleiter nie«, sagte Nova. »Doch als Flieger würden wir das vielleicht.«
    Ein seltsames Gemurmel lag über der Kolonie. Es hörte sich an wie ein leichter Wind, der sich schnell zu einem Sturm auswachsen konnte. Dämmer dachte an Teryx’ Mutter, die Wut in ihrem Gesicht und wie sie ihn angeschrien hatte, nicht in ihr Gebiet einzudringen. Er sah ihren scharfen Schnabel vor sich. Konnte sie wirklich so mörderische Absichten gehegt haben? Er presste sich dichter an die Rinde und wünschte, sie könnte ihn aufnehmen.
    »Aber Aeolus konnte doch nicht einmal fliegen«, klagte seine Mutter.
    »Ich weiß«, sagte Nova. »Aber vielleicht haben ihn die Vögel für jemand anderen gehalten.«
    Dämmer konnte spüren, wie Blicke nach ihm suchten, ihn fanden und ihn durchbohrten. Er zwang sich, geradeaus zu blicken, immer nur seinen Vater anzusehen. Sein Gesicht fühlte sich hart und spröde an. Hatte er in irgendeiner Weise Aeolus’ Tod verschuldet?
    »Wir müssen einen von ihnen umbringen!«, rief Barat aus. »Leben um Leben!«
    Die Kolonie brüllte ihre Zustimmung heraus.
    »Das zieht nur neue Angriffe nach sich«, sagte Ikaron entschieden.
    »Es war kein Neugeborener aus deiner Familie«, erwiderte Barat scharf.
    »Ich weiß, mein Freund. Aber gerade deshalb kann ich einen nüchtern überlegten Rat geben.«
    »Ich will Gerechtigkeit, nicht einen wohlüberlegten Rat!«, schrie Barat.
    »Ich weiß, das ist jetzt kein Trost für dich, aber genau so ein Rat ist für uns alle im Moment am besten.«
    »Und wie soll das gehen?«, wollte Barat wissen. »Wenn wir nichts unternehmen, geben wir den Vögeln die Erlaubnis, wieder zu töten. Sie werden keine Angst davor haben, uns weiter zu misshandeln. Und sie werden uns für Feiglinge halten.«
    Dämmer blickte zu Nova und sah, wie sie voller Interesse mit blitzenden Augen zwischen Barat und Ikaron hin- und herschaute. Ganz sicher freute es sie, dass ein anderer Ältester mit dem Anführer nicht übereinstimmte.
    »Wir haben mit den Vögeln zwanzig Jahre lang friedlich zusammengelebt«, sagte Ikaron. »Wir waren nie befreundet, doch wir haben uns wechselseitig toleriert. Aus irgendeinem Grund empfinden sie wohl das Fliegen meines Sohns als Bedrohung ihres Gebiets, vielleicht auch ihrer Nahrungsvorräte. Wir leben beide von Insekten. Ihre Taten sind ungeheuerlich und unverzeihlich, doch ich sehe keinen Vorteil darin, Rache zu üben.«
    »Das siehst du falsch«, sagte Nova kurz und bündig. »Ich stimme mit Barat überein. Wir dürfen das nicht so einfach hinnehmen. Sol, was meinst du?«
    Dämmer konnte sehen, wie Sol unbehaglich Luft holte.
    »Ich stimme Ikaron zu«,

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