Nachtflügel
sind wir«, sagte Miacis und blickte die anderen Feliden an.
»Und seid ihr bereit, die Meute für immer zu verlassen?«, fragte Reißzahn.
»Bestimmt wird Patriofelis, wenn wir alle gemeinsam zurückkehren …«, fing Miacis an, doch Reißzahn schnitt ihr das Wort ab.
»Nein«, sagte er. »Patriofelis ist alt und seine Wege sind ausgetreten. Er lebt in der Vergangenheit und wird die Möglichkeit nicht freigeben, dass unser neuer Hunger nach Fleisch die Meute aufblühen lassen wird. Er fürchtet den Krieg, doch der ist immer der Weg in die Zukunft. Es gibt zu viele Tiere, als dass wir alle uns von Insekten und Pflanzen ernähren könnten. Früher oder später werden einige Tiere anfangen, sich gegenseitig zu jagen. Und mit dem Fleisch werden sie stärker und schwerer werden. Dann werden sie zu den neuen Feinden, die wir alle fürchten. Ich sage daher, lasst uns die Jäger sein. Doch Patriofelis wird auf dieses Argument nicht hören.«
»Dann können wir ihn stürzen«, sagte Miacis.
Reißzahn knurrte. »Patriofelis ist beliebt und viele werden für ihn kämpfen. Wir können nicht gewinnen.« Er hielt kurz inne. »Wenn ihr erst einmal jagt und tötet, gibt es kein Zurück mehr. Wollt ihr die Meute für immer verlassen?«
»Ja«, sagte Miacis nach einem Zögern von nur einer Sekunde.
Nacheinander stimmten auch die anderen Feliden zu.
»Und seid ihr bereit, mich als euren neuen Anführer zu akzeptieren?«
Miacis schaute die anderen Feliden an und wandte sich dann wieder ihm zu.
»Das sind wir«, sagte sie.
Kapitel 9
Ausgeschlossen
E r träumte davon, jubelnd über den Bäumen zu fliegen. Vögel beobachteten ihn von ihren Sitzplätzen aus. Jedes Mal, wenn er nach unten blickte, waren es mehr und wieder mehr, bis die Äste nur noch aus Federn, Flügeln und Schnäbeln zu bestehen schienen. Die Vögel sangen für ihn, erst lieblich, doch dann wurde die Musik bedrohlich misstönend.
Als er aufwachte, verschwanden die Traumbilder aus seinem Kopf, doch der Morgengesang der Vögel blieb und hallte durch den Wald. Er hörte genau hin und seine Nackenhaare sträubten sich. Da lag wirklich etwas Bedrohliches in diesem Morgengesang, eine tiefe, auftrumpfende Aggression, die er bisher noch nie gehört hatte. Und am seltsamsten war, dass er meinte, vermischt mit der Melodie einen Refrain zu hören, etwas, das er von den Vögeln überhaupt nicht gewöhnt war.
»Komm und sieh«, sangen die Vögel immer wieder. »Komm und sieh den Lauf der Dinge.«
Was genau wollten sie, was sollte er sehen?
Im ganzen Mammutbaum begannen sich nun langsam die Chiropter zu regen und ein paar jagten bereits in der Lichtung. Sylph und seine Eltern wachten auch auf, und während der morgendlichen Begrüßung und des allgemeinen Putzens verebbte der Gesang der Vögel gänzlich. Niemand sonst schien ihn wahrgenommen zu haben, und Dämmer war geneigt zu glauben, dass es bloß eine ängstliche Einbildung gewesen war – die Erinnerung an diesen grimmigen Muttervogel – oder ein akustisches Trugbild seiner noch verschlafenen Gedanken.
Als er sich über den vom Morgenrot gesprenkelten Ast bewegte, freute er sich, dass seine Muskeln nicht annähernd so steif waren und wehtaten wie an den vergangenen Morgen. Sein Körper gewöhnte sich allmählich ans Fliegen.
»Magst du mit mir weiter oben jagen?«, fragte er Sylph.
»Ja, mach ich«, sagt sie, ohne zu zögern.
Dämmer stupste sie dankbar kurz an. Er wusste, dass es anstrengend für sie war, nach oben zu klettern, und dass die Jagd dort nicht so gut war wie weiter unten. Doch er brauchte mehr denn je Gesellschaft. Trotz der Unterstützung seines Vaters konnte Dämmer eindeutig spüren, wie kühl sich die Kolonie ihm gegenüber verhielt. Er war noch nie der Beliebteste der Neugeborenen gewesen, dafür hatte allein sein seltsames Aussehen gesorgt. Doch seit er zu fliegen begonnen hatte, spürte er, wie sich die anderen Chiropter noch weiter von ihm zurückzogen, Neugeborene und Erwachsene gleichermaßen. Das geschah nicht offensichtlich, war nicht unverhohlen grausam, sie beachteten ihn einfach auf ganz unterschiedliche Weise nicht.
Wenn er auf einem Ast neben anderen Chiroptern landete, rückten sie meistens ein bisschen zur Seite, wie um ihm Platz zu machen, doch mehr als notwendig. Nur sehr wenige grüßten ihn mit einem Hallo. Wenn er einer Gruppe sich unterhaltender Chiropter zu nahe kam, verebbten ihre Stimmen, als ob ein unangenehmer Geruch angetrieben worden wäre. Wenn er bei einer
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