Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Finger ertastete er die gesamte Länge der vernarbten, knotigen Vene. Telmaine murmelte: »Machen Sie schon.« Der Arzt stach die Nadel ins Fleisch. Sylvide wimmerte und schwankte an ihrem Arm. Telmaine gab ihr Halt, verärgert über die Störung. »Geh hinaus«, befahl sie. »Ich werde nicht lange bleiben.«
Die Krankenschwester half Sylvide aus dem Zimmer.
Telmaine zwang sich, ihre verbrannte Hand statt der Zähne zu benutzen, um ihren Handschuh abzustreifen, dann wappnete sie sich gegen das, was sie fühlen würde, und legte ihre Hand um Guillaumes geballte Faust.
Es war noch schlimmer als bei Balthasar, der zwar Schläge eingesteckt hatte und blutete, doch kaum bei Bewusstsein gewesen war. Gil litt Qualen, wurde von innen heraus verzehrt und war sich darüber im Klaren, dass er im Sterben lag. Aufs Schlimmste gefasst, widerstand sie einem Aufschrei. Sie gab ihre Magie frei, ließ sie in ihn hineinströmen und betete, dass die Zeugen das Nachlassen des Schmerzes auf die Wirkung der Droge schieben würden.
Seine keuchenden Atemzüge wurden ruhiger. »Unterhafen. Pier einunddreißig. Unteres Stockwerk. Lagerhaus auf der linken Seite. Da ist eine Tür …«
»Ich kenne die Stelle«, sagte sie. Sie kannte sie aus seinen Erinnerungen.
»Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie mich überraschen. Ein Fehler.« Stimmen hinter ihm, ein Schlag in den Unterleib wie mit einer Dampframme, Männer, die ihn traten und verhöhnten, während er sich auf dem Boden krümmte, und die ihn dann, als die Sonnenaufgangsglocke verstummte, auf die menschenleere Straße warfen. Er hatte sich in einen Spalt geschleppt, den er mit Geröll versiegeln konnte, und während des Tages unter den brennenden Pflastersteinen gelegen – wie er in dem heißen, dunklen Gefängnis mit den verwesenden Leibern seiner toten Schwestern gelegen hatte. Trotz ihrer weitreichenden Erfahrung mit so vielen Arten innerer Qual hatte sie sich niemals eine Qual wie diese vorstellen können.
»Sagen … sagen Sie Ihrem Mann« – der Krampf seines Lächelns war schauerlich –, »er hat mich gerettet … für einen besseren Tod als … den, nach dem ich suchte.« Durch seine Erinnerungen erkannte sie ihren Balthasar, einen sanften und unerbittlichen Heiler, Banner von Ungeheuern, Jäger von Dämonen, Spender von Hoffnung. Nicht nur für Florilinde hatte Gil diesen schrecklichen Tag durchgestanden.
Sie hob den Kopf und peilte den Arzt. Er war niemand, den sie erkannte, aber sie sagte energisch: »Mein Ehemann ist Dr. Balthasar Hearne. Dieser junge Mann ist ein Patient von ihm. Wenn mein Mann hier wäre, vermute ich, würde er Ihnen sagen, dass Baronet di Maurier viel mehr von dem Medikament braucht, das Sie ihm verabreichen. Es spielt keine Rolle, ob Sie persönlich es missbilligen oder nicht. Sie haben die Pflicht, sein Leiden zu lindern.«
Das Gesicht des Arztes verkrampfte sich vor Missbilligung und Groll. Gil krächzte ein Lachen. »Es hat keinen Sinn. Er ist der Arzt meiner Familie.«
Telmaine setzte dem Arzt weiter zu. »Sie haben einen Eid geleistet, nicht wahr? Denselben, den mein Mann geleistet hat.«
Widerstrebend begann der Arzt eine weitere Spritze vorzubereiten. »Ist das genug?«, fragte sie ihn herausfordernd, sobald er zögerte. Mit neuerlichem Groll gab er nach und zog etwas auf, das eine erschreckend große Menge zu sein schien. Sie hoffte inbrünstig, dass sie sich richtig an Balthasars Erklärungen zum Thema Sucht und Toleranz erinnert hatte.
Sie fühlte, wie die Nadel durch seine vernarbte Vene stach, und beunruhigenderweise Gils Woge der Dankbarkeit für dieses Gefühl. Sie hatte eine derart starke Dosis benötigt, um zu vertuschen, was sie zu tun im Begriff stand. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Ishmael di Studier neben ihr hockte, seine Hand über ihrer, sein Bewusstsein das ihre überlagernd, während er ihr Einblick gab. Die schwere Kugel hatte bei ihrem Eintritt die Gedärme zerfetzt und sich tief in die Beckenhöhle gebohrt. Wenn man sie entfernte, würde weiterer Schaden angerichtet werden. Die Blutung war schwer und gefährlich schwächend gewesen, und die aus den Eingeweiden gequollenen Flüssigkeiten hatten eine heftige Bauchfellentzündung ausgelöst. Zart knotete sie den zerrissenen Darm zusammen und versiegelte seine Gifte im Innern. Dann schob sie, wie sie es bei Balthasars bevorstehender Lungenentzündung getan hatte, die Infektion beiseite, die an den rohen Membranen nagte. Das war alles, was sie tun konnte. Er
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