Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
war noch immer gefährlich schwach, obwohl die Droge endlich sein Leiden gelindert hatte. Ein noch machtvolleres Schmerzmittel war seine tiefe Erleichterung darüber, seine Nachricht überbracht zu haben, in seiner ihm zugewiesenen Aufgabe nicht gescheitert zu sein. Sie beugte sich über ihn und strich mit den Lippen über seine brennende Wange. »Danke«, flüsterte sie.
»Sagen Sie es Ishmael«, schnarrte er, und sein Atem roch faulig. »Magierbastard hin oder her, er ist ein großartiger Jäger. Er wird die Kleine für Sie finden.«
»Sie haben sie gefunden«, erwiderte sie und ignorierte das Frösteln, mit dem dieser »Magierbastard« sie erfüllte. Gil di Maurier hatte mehr Grund als die meisten, Magie zu hassen. »Und Sie werden noch andere finden und retten.« Sie richtete sich auf und legte seine schlaffe Hand zurück auf die Decken. Falls er überlebte, würden sie es immer noch ein Wunder nennen, was ihr zupasskam. Wenn Magie auch niemals zurückgeben konnte, was ihm genommen worden war, so hatte sie doch gewiss der anderen Waagschale ein schweres Gewicht hinzugefügt.
Zum ersten Mal verstand sie wahrhaft, warum der sechzehn Jahre alte Ishmael di Studier, von hoher Geburt und magerem Talent, sein Geburtsrecht gegen sein Talent eingetauscht und den Handel für gut gehalten hatte.
Sie fand Sylvide im Wohnzimmer, wo sie leise schluchzend in einem Sessel saß, die Einzige von den vielleicht zwölf anwesenden Männern und Frauen, die saß. Telmaine begrüßte Guillaume di Mauriers Verwandte mit der notwendigen Höflichkeit, aber nicht mehr. Sie verspürte keinerlei Wunsch, mit jenen zu reden, die jetzt wie Aasvögel am Totenbett eines Sohnes und Neffen versammelt waren, den sie im Leben gemieden hatten. Jedoch, dachte sie, und ihre Wangen röteten sich, wenn die Schnitzereien auf diesem Bett ein Maßstab sind, kann Gil kaum das schuldlose Opfer gesellschaftlicher Missbilligung sein.
»Oh Tellie«, sagte Sylvide mit einem Schluckauf, als sie wieder in die Kutsche stiegen, »das war so traurig. Ich weiß, er war ein zügelloser Mensch und eine große Enttäuschung für seine Familie, aber ich kannte ihn als Jungen, und er war …«
»Ziemlich abscheulich, vermute ich«, unterbrach Telmaine ihre Freundin, als diese ins Stocken geriet. »Das sind die meisten kleinen Jungen, zumindest für kleine Mädchen. Lass uns für ihn beten, Sylvide. Er hat so viel gelitten in seinem Leben; sicher sollte es eine gewisse Wiedergutmachung geben.« Sie holte tief Luft. »Du musst mich zum Gefängnis bringen.«
»Zum Gefängnis?«, wiederholte Sylvide ungläubig.
»Baron Strumheller hat Guillaume gebeten, nach Florilinde zu suchen, und Guillaume hat sie gefunden, kurz bevor er niedergeschossen wurde. Solange Florilindes Entführer davon ausgehen können, dass er gestorben sei, bevor er irgendjemandem seine Entdeckung mitteilen konnte, haben sie keinen Anlass, sie woanders hinzuschleppen und zu verstecken – und das ist unsere Chance, sie zurückzuholen. Aber der Mann, der am besten weiß, wie man sie dort herausholen kann, sitzt im Gefängnis.«
»Tellie, er wird der Hexerei und des Mordes angeklagt. Sie werden dir nicht erlauben, ihn zu besuchen.«
»Es sind falsche Anklagen, Sylvide«, sagte Telmaine mit einer Stimme, hart von Ärger und Entschlossenheit. »Falsche, abscheuliche Anklagen.«
»Tellie …« Sylvide rang die Hände. »Du kannst nicht in dieses Gefängnis laufen, um einen Hexer zu besuchen. Es spielt keine Rolle, ob du ihn für unschuldig hältst; andere tun das nicht. Denk an deinen Ruf. Denk an meinen, wenn dir deiner schon nichts bedeutet. Deine Schwester wird … sie wird mich bei lebendigem Leibe auffressen!«
»Es ist mir« – gleichgültig, hob sie zu sagen an, aber die Meinung einer Gesellschaft, zu der sie seit ihrer Geburt zählte, war ihr nicht gleichgültig. Und auch die Sicherheit und das Leben ihrer Freundin nicht. Gil di Maurier mochte sterben, weil Ishmael ihn in die Geschichte verwickelt hatte. Ishmael saß gewiss im Gefängnis, weil er ihn in die Geschichte hineingezogen hatte. Balthasar … sie holte tief Luft, dachte hastig nach und stieß dann einen Seufzer aus.
»Du hast Recht. Ich werde zu Merivan zurückkehren und es den Ermittlungsagenten berichten. Aber du musst für mich zu Balthasar fahren. Er sollte von Guillaume wissen. Er wird jemanden kennen, den er zu ihm schicken kann, jemanden, der seinen Schmerz richtig behandelt. Wenn du mich am Bolingbroke-Kreisel absetzt, kann ich
Weitere Kostenlose Bücher