Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
von dort aus eine Kutsche nehmen.«
Sylvide erhob Einwände, doch ohne Erfolg. Immer noch protestierend setzte sie Telmaine an der Kreuzung ab, während diese ihr noch einmal die Nachricht aufsagte, die sie Balthasar überbringen sollte. Telmaine peilte Sylvides besorgtes, unglückliches Gesicht im Fenster der abfahrenden Kutsche, während sie in eine Droschke stieg und ihr wahres Ziel nannte, den Unterhafen.
9
Ishmael
Ishmaels Meinung nach war der Aufruhr ein zweischneidiger Segen. Er hielt die Flure voll und das Gefängnispersonal beschäftigt – zu beschäftigt damit, sich ihren regulären Lohn zu verdienen, als sich ihre Bestechungsgelder zu sichern. Außerdem führte der rege Betrieb dazu, dass keine Wache jemals unbeobachtet war. Auf der anderen Seite machte die gleiche Betriebsamkeit eine Flucht so gut wie unmöglich, auch wenn da nicht noch die beiden Wachposten vor seiner Zelle gewesen wären, den privaten Agenten, den Ishmaels Anwalt engagiert hatte, und den einzigen Gefängniswächter, den der Superintendent nicht wirklich erübrigen konnte, es aber trotzdem tat, da seine Ehre von Ishmaels Leben abhing. Es würde keinen weiteren Anschlag geben wie die beiden ersten, aber angesichts des Feuers in der Flussmark weckte der Gedanke, einen weiteren Tag im Gefängnis zu verbringen, in Ishmael tiefes Unbehagen.
Er bewegte die Finger und spürte, wie die Dietriche in seine Handschuhe glitten. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang wäre die beste Zeit. Wenn er nicht in aller Heimlichkeit fliehen konnte, indem er die Verwirrung, die Müdigkeit und die mangelhafte Ausbildung der unerfahrenen Wachmänner ausnutzte – und das wenige an Magie, das er besaß –, dann würde er auf Kips Schläue und seinen Plan vertrauen, mit den Füßen voraus das Gefängnis zu verlassen, ein Opfer unerwarteter, später Nachwirkungen des Giftes. Als Magier besaß er die Körperbeherrschung, um überaus überzeugend einen tödlichen Zusammenbruch vorzutäuschen, unterstützt von Kip, der leugnen würde, noch Reste von Leben in ihm wahrzunehmen. Es wäre riskant, da nichts den jungen Opportunisten auf seinem Kurs hielt, außer dem Versprechen auf eine Belohnung, und Ishmael konnte jeden Moment überboten werden. Allerdings hatte er Kip unausgesprochen zugesagt, Rache für sein verlorenes Kind zu üben, Schattenjäger, der er war. Also ruhte er sich aus, saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf seiner Pritsche und lauschte aufmerksam den Stimmen und Geräuschen um ihn herum, den Füßen, die an seiner Zelle vorbeischlurften, und wartete.
›Ishmael?‹ Das geistige Flüstern war so klar und abrupt, als sei Telmaine bei ihm in seiner Zelle. ›Baron Strumheller?‹ Es zitterte unter ihrer Ungewissheit, ob sie ihn so vertraut anreden durfte. Trotzig eroberte sie sich seinen Namen und schleuderte ihn wie einen Speer aus Feuer durch seinen Geist. › Ishmael!‹
Er fuhr hoch. ›Ich höre Sie!‹ Grundgütige Imogene, sie besaß Macht! Sein Gefühl von ihr war so scharf, als säße sie hier auf seinem Schoß, und sein Körper reagierte auf diesen Gedanken. Er mäßigte seine Reaktion; er wollte sie nicht erschrecken, sodass sie sich zurückzog. ›Telmaine, ich hatte nicht erwartet …‹ – dass Sie dazu in der Lage wären, schien beleidigend und vielleicht unaufrichtig.
Es folgte eine Pause. Er spürte das Sieden ihrer Persönlichkeit und ihrer Macht. ›Sie haben etwas mit mir getan, nicht wahr?‹ Sie nahm seinen sofortigen Impuls wahr, es zu leugnen; ihr Gedanke durchbohrte ihn. ›Wagen Sie nicht, so zu tun, als wäre das nicht geschehen.‹
Bedächtig formulierte er seine Gedanken. ›Ich habe Ihnen die Art gegeben, wie ich an meine Magie denke, die Art, wie ich … sie mir vorstelle. Das wird letztendlich nicht so sein, wie Sie an Ihre Magie denken, aber es ist ein Anfang. Bei einigen Magiern funktioniert es. Außerdem schafft es eine Verbindung. Macht Dinge wie dies hier einfacher.‹
Er spürte, dass sie sich an Träume erinnerte, die nicht die eigenen waren, gesponnen aus seinen Erinnerungen. ›Rattenbastard.‹
Autsch, dachte er, obwohl sie jedes Recht dazu besaß, wenn sie davon geträumt hatte.
›Wo sind Sie?‹, fragte er. ›Sie sind verletzt. Ich kann es spüren.‹
›Ich bin in einer Kutsche auf dem Weg zum Unterhafen. Ich wollte mit Floria Weiße Hand reden, aber …‹ Die Gedanken strömten in ihn, kreisten um diesen einen Moment, in dem sie sich die Hand versengt hatte, und das entsetzte Begreifen,
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