Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
sentimentaler Narr. Das hat Lysander schon immer gesagt.«
Und dann war sie fort. Er konnte Geräusche nicht mehr sicher genug verorten, um zu wissen, wohin sie gegangen war, aber jedenfalls nicht zur Haustür hinaus, nicht jetzt. Er nahm die betäubten Säuglinge aus ihrer Wiege, ging die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, wobei er mit seiner verbrannten Hand immer wieder eine Windel umfasste und das Gefühl hatte, als griffe er in Stacheldraht. Das hielt ihn wach.
Wo war sie? Hatte sie aufgegeben? Gewiss nicht mehr als er. Jetzt kam der gefährlichste Teil. Er musste die Tür hinter sich auflassen und quer durch den Raum gehen, um zunächst einmal die Säuglinge nebeneinander in seinen Sessel zu legen. Dann zurück durch die weite Fläche des Raumes, um die Tür zu schließen, den Schlüssel im Schloss umzudrehen. Auf der anderen Seite der Papierwand konnte er Floria bei ihren morgendlichen Übungen hören, das leise Wispern ihrer Beinarbeit. Kurz bevor er die Wand erreichte, stürzte er. Hatte einen kurzen Albtraum, dass er gegen die Wand fiel, durch die Wand, und vor ihren Augen verbrannte. »F’oria.«
Stille. »Bal? Balthasar? Was ist los mit dir?«
Er kroch auf die Wand zu, zu dem flachen Schrank, den beide Häuser teilten, erzählte, was vorgefallen war, und kämpfte gegen seinen aufrührerischen Magen an, der seine Bewegungen mit denen des Bodens abgestimmt zu haben schien. »Hil’ mir, Floria.«
Sie pochte heftig auf das Holz des Schrankes. »Bal, schlaf nicht ein! Sprich weiter mit mir. Muffig, sagst du, und im Tee. Mutter Aller Dinge Die Geboren Sind, ich wünschte, ich hätte eine Probe davon.«
»Im Ausguss und weggespült«, sagte er und freute sich, dass er das so schön gesagt hatte. »Im Ausguss«, wiederholte er. »Sch, sch.«
»Nichts da mit Sch, sch«, sagte sie. »Sprich weiter!« Diesmal hörte er, wie ihre Schritte sich entfernten. Er lehnte sich gegen den Schrank, legte die unverbrannte Hand auf die Papierwand und stellte sich vor, er könne das brennende Licht auf der anderen Seite spüren. Es war nicht furchtbar, sondern warm wie das Licht eines Feuers.
» Balthasar !«
Er schreckte aus dem Schlaf hoch, ein unangenehmes Gefühl. »Ja.«
»Ich habe dir ein Stimulans zubereitet. Es steht in dem Schrank. Trink es.«
Er nahm das Glas aus einem der Fächer des Schrankes und versuchte, es zu einem Mund zu führen, der zum Körper eines anderen zu gehören schien. Als er es an den Lippen spürte, drückte er es dazwischen und trank. »Söner Gesmack.«
»Ich habe von einem Chefkoch gelernt, wie man einen beliebigen Geschmack erzielt. Ist ganz nützlich.« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Sprich weiter mit mir. Du solltest in Kürze die Wirkung spüren.«
Sein Kopf wurde bereits etwas klarer. Er konnte seinen Ultraschallsinn wieder gebrauchen, kroch zu den Säuglingen hinüber und deckte sie mit der gesunden Hand zu. Als er das geschafft hatte, war die Schwerfälligkeit verschwunden; jetzt bewegte sich seine Hand ruckweise und zitterte, wenn er sie stillzuhalten versuchte. Die andere Hand hielt er zusammengekrümmt gegen die Brust gedrückt. So wie Florias Gegenmittel die Lähmung seines Geistes vertrieb, so verscheuchte sie auch alles, was das Brennen seiner Hand bisher gemildert hatte.
»Und was machen wir mit den Babys?«, fragte er.
Er hörte, wie sie erleichtert ausatmete, nachdem sie gemerkt hatte, dass er wieder normal sprach. »Du darfst ihnen nichts geben, solange sie betäubt sind. Das ist doch klar, Bal. Sie könnten sich daran verschlucken.« Er dachte darüber nach. »Du kannst nicht mehr tun, als dich ständig mit ihnen zu beschäftigen, sie zu berühren und dafür zu sorgen, dass ihre Bewusstlosigkeit nicht so tief wird, dass sie aufhören zu atmen. Davon verstehst du sicher mehr als ich.«
»Floria, ich danke dir«, sagte er, obwohl er inzwischen anfallsweise zitterte.
»Du solltest es mir überlassen, mich um diese Frau zu kümmern.«
Er schwieg; seine Gedanken entglitten ihm. Er konnte sich nicht einmal zu dem Wort nein durchringen.
»Niemand hat dich bisher jemals vergiftet«, sagte sie in sein Schweigen. »Ich weiß nicht, was da vorgeht, und das gefällt mir nicht.«
»Und ehe man sich die Mühe macht, es herauszufinden …«
»Ich habe nie versucht zu verheimlichen, was ich bin«, sagte sie. »Ein gefährlicher Freund und ein tödlicher Feind.« In ihrer Stimme klang eine beunruhigende Heiterkeit mit. »Aber ich schätze deine Freundschaft genug,
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