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Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Titel: Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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nur in der Halbwelt. Sie geschehen auch unter Leuten wie uns.«
    Anarys verzog den Mund. »Mama würde ohnmächtig werden, wenn sie wüsste, was du mir da erzählst.«
    »Mama«, sagte Telmaine, »ist eine liebe Frau und immer sehr behütet gewesen. Sie kann eine wirkliche Gefahr nicht von einer kleinen gesellschaftlichen Ungelegenheit unterscheiden.« Sie hatte ein etwas schlechtes Gewissen, so zu sprechen; ihre Mutter hatte nicht ihre Möglichkeit, die Absichten der Männer zu erkennen. »Ich habe dir nur das erzählt, was meiner Meinung nach jedes junge Mädchen wissen sollte.«
    »Es war aber nichts Schönes. «
    Telmaine befestigte ihren Schleier mit Nadeln auf dem Kopf und schob ihn sich sorgfältig von den Ohren zurück, so wie es die liberalen Sitten dieser Tage gestatteten. Anders wäre Balthasar auch nicht damit klargekommen. »Es war die Wirklichkeit.«
    Von der Tür erklang ein energisches Klopfen, und ihre ältere Schwester rauschte herein, ohne sich erst lange bitten zu lassen. Merivan war eine hochgewachsene, stets unzufriedene Frau von einunddreißig Jahren, die im Kinderkriegen eine Möglichkeit gefunden hatte, ihre überschüssige Energie loszuwerden; nach sechs Kindern war sie erneut schwanger, aber noch nicht so deutlich sichtbar, als dass sie sich hätte von der Gesellschaft zurückziehen müssen.
    »Guten Abend, Merivan«, sagte Telmaine freundlich. »Ich hoffe, deine Verdauung ist wieder in Ordnung?«
    Merivan hob eine Hand. Telmaine wappnete sich schon gegen einen von Merivans Klapsen, aber ihre Schwester hatte nichts Schlimmeres vor als Telmaines Schleier weiter nach vorn zu ziehen. »Du peilst dich in diesem Kleid wie eine Halbweltdame«, bemerkte Merivan scharf. Durch die zarte Berührung ihrer Schwester spürte Telmaine deren gewöhnliche Mischung aus Neid und Tadelsucht. »Und dein Gesprächsthema ist vulgär.«
    »Ich bin selbst zweifache Mutter, Merivan«, sagte Telmaine verbindlich. »Ich weiß, wie man sich fühlt.«
    »Und dann deine absurden Handschuhe. Wirklich, Telmaine, wenn dein Mann schon ein Experte für Geisteskrankheiten ist, warum kann er dann nichts gegen deine Ansteckungsphobie unternehmen?«
    Telmaine biss die Zähne zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. »Weil es weder mich noch ihn stört, wenn ich Handschuhe trage, die nicht mehr modern sind, und weil sich unsere ganze Familie immer hervorragender Gesundheit erfreut – vielleicht gerade weil ich so vorsichtig bin.«
    »Ich verstehe nicht, wie du es hinnehmen kannst, dass er in dieser Klinik arbeitet. Bestimmt kommt er dort mit allen Arten von Krankheiten in Kontakt.«
    Sie ließ es geschehen, dass Merivan ihren Arm nahm und sie aus dem Raum führte. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, enthüllte ihr Merivan ihre eigentliche Absicht. »Was hast du Anarys erzählt? Einiges von dem, was ihre Zofe mitangehört hat, kann ich kaum glauben.«
    »Sie muss von diesen Dingen erfahren. Auch in der Gesellschaft gibt es Männer, die unschuldige Mädchen ausnutzen.«
    »Ach, Telmaine. Du bist so gewöhnlich geworden. Genau das, haben wir befürchtet, würde nach deiner Heirat mit diesem …«
    Telmaine riss ihren Arm zurück. Merivan konnte über Telmaine sagen, was immer sie wollte, aber sie würde nicht schlecht über Balthasar reden. »Ich werde jetzt meinen Kleinen gute Nacht sagen.«
    »Du verwöhnst sie«, beschwerte Merivan sich. »Du solltest mehr Kinder haben; dann würdest du nicht so anhänglich …« Sie hielt inne, versuchte ein Rülpsen zu unterdrücken und presste sich die Hand auf den Bauch.
    Telmaine bemitleidete sie. Merivan hatte einen scharfen Verstand; sie konnte gegen Balthasar bestehen, wenn es um ein Gespräch über die Notwendigkeit sozialer Regeln, Konventionen und die Zurückstellung persönlicher Bedürfnisse für einen höheren Zweck ging. Balthasar meinte, sie hätte sich für ihre Ideale geopfert, jede Möglichkeit intellektueller Betätigung außerhalb der Ehe, des Kinderkriegens und der Kultivierung von Charakter und Moral ihrer Kinder verweigert. Sie klammerte sich jedoch nicht an ihre Sprößlinge, sondern befehligte sie vielmehr wie eine kleine Armee, die es auszubilden galt.
    »Meri«, sagte sie freundlich, aber fest. »Balthasar und ich ziehen unsere Kinder groß, wie es uns richtig erscheint.«
    Als sie ins Kinderzimmer kam, lösten sich ihre Töchter aus dem Gedränge, das in dem reich verzierten Spielhaus herrschte, und huschten zu ihr herüber. Die sechs Jahre alte

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