Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
um mich in dieser Sache durch deine moralischen Bedenken gebunden zu fühlen.«
Von einem leichten Zittern geschüttelt betrachtete er die Zwillinge einen Augenblick und nahm dann denjenigen von ihnen auf, dessen Atem schwächer ging. Er zuckte angesichts des Schmerzes in seiner Hand zusammen. Er legte sich den reglosen Säugling an die Schulter und begann dessen Rücken zu massieren. Balthasar fühlte sich auf furchterregende Weise sprunghaft, bereit, sich von einer Sekunde auf die andere von hysterischem Lachen zu mörderischer Wut tragen zu lassen. »Floria«, flüsterte er. »Was hast du mir da gegeben?«
»Etwas, das die Leibwache des Prinzen benutzt, um wach zu bleiben und kampfeslustig«, sagte sie, und seine geschärften Sinne nahmen den Unterton wahr und erfassten dessen Bedeutung, noch bevor sie hinzufügte: »Für den Fall, dass du es brauchst.«
Ihn schauderte, als er begriff, was er unter dem Einfluss dieser Droge vielleicht tun mochte, falls ihm Gefahr drohte, und dass Floria dies sehr wohl bewusst war.
»Bal, gibt es irgendwelche Waffen in deinem Haus? Irgendwelche Pistolen, Gewehre, Armbrüste, Bogen, Dolche …«
»Nein!«, sagte er.
»Es gibt noch andere Dinge, die als Waffen verwendet werden können«, sagte sie weiter. »Du solltest dir überlegen, wie du dich verteidigen kannst.«
Er versuchte zu lesen, aber seine Konzentration war dahin, seine Gedanken schlugen Pfade ein, die er nicht kontrollieren konnte und die stets zu Gewalt führten. Irgendwann im Laufe dieses endlosen Tages hörte er, wie der Türgriff gedreht wurde. Sein geschärftes Gehör war fast so gut wie seine Ultraschallsinne. An seiner Schulter schlief eins der Babys, das walnussgroße Fäustchen gegen das Ohr gedrückt, der Atem so leicht, dass Balthasar ihn kaum auf der Haut spürte. Nach einer kurzen Stille hörte er, wie sich jemand vorsichtig am Schloss zu schaffen machte. Geräuschlos legte er den Säugling auf den Sessel, ließ sich zu Boden rutschen und schob sich bis in die Mitte des Raums vor. Wie von allein zogen sich seine Lippen zurück, und er bleckte die Zähne. Er sondierte den Raum und suchte. Dann fand er, woran er gedacht hatte: den Brieföffner mit dem glatten Griff, den Telmaine nicht leiden mochte wegen seiner Länge, seiner Schärfe, der Gefahr, die er für die Kinder darstellte, und wegen des Umstands, dass es sich um ein Geschenk Florias handelte. Er kroch zu seinem Schreibtisch hinüber, griff nach dem Brieföffner, der ihm in der Hand lag wie angegossen, und lauschte auf das Kratzen an der Tür. Ihm fehlte die Erfahrung, um zu wissen, ob es fachgerechte oder laienhafte Aktivität verriet, ob es wirklich eine Gefahr darstellte oder einfach den verzweifelten Versuch, ein Hindernis zu überwinden. Es spielte keine Rolle. Er hatte ein Messer in der Hand und verfügte über die Kenntnisse eines Anatomen. Er würde beides benutzen.
»Tercelle!«, warnte er sie mit lauter Stimme.
Die Geräusche erstarben, aber sie antwortete nicht. Er stellte sich vor, wie sie vor der Tür stand mit – was in den Händen? Einer Haarnadel oder einer Hutnadel vielleicht, und mit was sonst noch? Einem Messer? Noch mehr Gift?
Es dauerte lange, bevor er wieder das Vertrauen fasste, das Messer beiseitezulegen und einen der Säuglinge auf den Arm zu nehmen. Sehr lange.
2
Telmaine
Prinzessin Anarysinde Stott hatte sich auf die Bettkante gesetzt und beobachtete, wie ihre Schwester ihre Toilette beendete. »Warum musst du nur diese langen Handschuhe tragen, Tellie? Sie sind so was von aus der Mode. «
Telmaine Hearne strich die Seide ihrer bis fast zu den Schultern reichenden Handschuhe glatt und tastete auf dem Frisiertisch nach einem Knopfhaken. Sie hatte tatsächlich eine gewaltige Menge von Fläschchen und Tiegeln mitgebracht, selbst wenn man bedachte, dass es sich um einen Aufenthalt von nur vier Tagen handeln würde – eine Einladung in den Sommerpalast des Erzherzogs – und jeder, der in der Gesellschaft etwas zählte, anwesend sein würde. Zwei Monate ohne ihren bescheidenen, ordentlichen Balthasar hatten ihr einen traurigen Rückfall beschert.
»Bal sagt immer, was einer schönen Frau steht, ist stets in Mode«, erklärte sie Anarys und fand schließlich den Haken. Nun konnte sie auch den letzten der Perlknöpfe schließen, und sie zog sich die Ärmel des Kleides über die Stulpen der Handschuhe. Dann ließ sie die Finger über die Spitze ihres Ausschnitts gleiten, die höher hinaufreichte, als es die Mode
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