Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
im Augenblick zuließ. Sie wandte sich ihrer Schwester zu und schüttelte ihre vollen Röcke aus. Das Kleid war neu, teuer – der gute Balthasar würde nie erfahren, wie teuer – und entsprach ganz dem derzeitigen Geschmack. »Was meinst du?«
Der Peilstrahl ihrer Schwester glitt über sie hinweg. »Du bist schön, und du wirst es immer sein.« Anarys seufzte.
Telmaine rauschte zu ihr hinüber, um sie flüchtig auf die Wange zu küssen. Sie wusste noch, wie es mit sechzehn war, wenn sich das Jahr unendlich in die Länge zog, bevor man in die Gesellschaft eingeführt wurde, bevor man sein Gesicht wie eine erwachsene Frau verschleiern konnte, bevor man umworben werden durfte – die arme Anarys schien eine späte Blüte zu werden, war immer noch flachbrüstig und wuchs aus ihren Kleidern heraus. Das Kleid, das Telmaine so gut stand, würde an ihr herabhängen wie ein Sack.
»Gib dir etwas Zeit, meine Liebe. Es wird schon werden.«
Dann richtete sie sich auf, denn sie war sich sicher, dass Anarys vorhatte, erst kurz bevor die Glocke zum Sonnenaufgang ertönte, hinunterzuschleichen. Dann würden Müdigkeit und Wein schon das ihre getan haben, die Aufmerksamkeit und den scharfen Witz der Gäste zu dämpfen, und die Sinne der Matronen und Anstandsdamen würden bereits erschöpft sein. Sie unterdrückte einen Seufzer und wog Pflicht gegen Diskretion ab. »Gib gut auf dich acht, Any-any«, sagte sie und drückte ihrer Schwester mit dem Finger das Kinn hoch. »Amüsier dich, aber vergiss nicht, dass man seinen Ruf sehr leicht verliert und nur sehr schwer wieder herstellen kann und man nicht allen jungen Männern vertrauen darf.«
Anarys zog einen Schmollmund. »Wie kannst du das wissen? Du warst auch nicht perfekt. Du hast dich heimlich mit Balthasar getroffen.«
»Ich hatte Glück«, sagte sie. Schließlich war es Glück gewesen, dass Balthasars Freunde genau diese eine Sommernacht gewählt hatten, um über die Gartenmauer der Stadtresidenz ihrer Familie zu steigen und uneingeladen an dem Maskenball zu ihrem siebzehnten Geburtstag teilzunehmen. »Ich hatte Glück, dass er wirklich so etwas Besonderes war, wie ich glaubte, als ich ihn kennenlernte.«
Ihre Schwester zog sich die Knie unter den Leib, sodass es aussah, als ob sie aus einem Riesenbausch von Röcken herauswuchs. »Ist er wirklich als Lichtgeborener verkleidet zu deiner Feier gekommen?«
»Oh ja.« Telmaine konnte sich noch gut an die außergewöhnliche Gestalt an den Bücherregalen erinnern, einen schlanken jungen Mann in einem dicht bestickten Hemd und gewebten Hosen, die, wenn das Hemd kürzer gewesen wäre, als unanständig hätten bezeichnet werden müssen; merkwürdig schmale, verzierte Schuhe hatte er getragen und einen riesigen, wunderbar absurden Hut, den eine schmutzige Feder zierte. »Ich wusste nicht, ob er an dem Bücherregal herumlungerte, weil er ahnte, wie deplatziert er erscheinen musste, oder weil er einfach schüchtern war. Natürlich weiß ich inzwischen, dass er wegen der Bücher dort stand.«
»Und du hast ihn zum Tanzen aufgefordert.« Anarys seufzte.
»Ja«, sagte Telmaine mit einem schiefen Lächeln. Ihre Mutter und ihre Tanten hatten dafür gesorgt, dass es für sie ein veritables Regiment passender Bewerber gab. Von denen einige sie beängstigten, manche sie nur langweilten, und der Rest sie unterdrücken würde. Als die Musik den ersten der drei Tänze spielte, in denen traditionellerweise Damenwahl galt, war sie daher zu der Merkwürdigkeit an den Bücherregalen hinübergeschlendert.
»Und ich habe ihn zu Tode erschreckt«, sagte sie und lächelte.
Seine Hand hatte gezittert, als er ihre ergriffen hatte, um sie sich auf die Schulter zu legen, wie es dem damals neuen – und für ihre Mama schockierenden – Stil entsprach. Sie hatte ihn ermutigend angelächelt und seiner Hand ihren Platz zugewiesen, wobei sie sie absichtlich die nackte Haut ihrer Schulter hatte streifen lassen. Er erging sich in Entschuldigungen, und sie zog ihn auf die Tanzfläche und verstand zum ersten Mal die Mädchen, die ihre jungen Männer wie Preisgewinne vorzeigten. Die kurze Berührung zeigte ihr den freundlichsten, hellsten Geist, den sie jemals gespürt hatte; sie wusste, dass sie den Mann gefunden hatte, den sie heiraten würde, ganz gleich, ob er ein Herzog, ein Diener, ein Musiker oder ein Magier war.
Anarys seufzte wieder.
»Sei du einfach vorsichtig«, sagte Telmaine. »Denk daran, was ich dir gesagt habe. Solche Dinge passieren nicht
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