Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Titel: Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
Vom Netzwerk:
Schreiben als nachtgeborene Rührseligkeit abtat.
    Und zuletzt … Telmaine. Falls sie ihn überlebte, was durchaus geschehen konnte – denn er hatte die Absicht, dafür zu sorgen, dass sie die Überlebende war, falls es so weit kam –, dann sollte sie wissen, dass die kurze Episode mit Ishmael di Studier und ihre langjährige Täuschung nichts an seinen Gefühlen für sie geändert hatte. Es hatte etwas Reizvolles zu wissen, dass er allein durch seine geschriebenen Worte repräsentiert werden würde und dass ihre Berührung des Papiers ihr niemals verraten würde, welche Zerrissenheit oder Verstellung dahinterlagen.
    Nachdem sein Brief an Telmaine fertig war, blieb ihm noch über eine Stunde Zeit. Er faltete den Rahmen zusammen, dann kam er auf den Gedanken, dass Vladimer im Falle ihres Todes viel Zeit verlieren würde, um sich aus den zahlreichen Versatzstücken, die ihm berichtet werden würden, ein zutreffendes Gesamtbild zu formen. Mit verkrampfter Hand beschrieb er bedächtig eine weitere Seite, adressierte sie an Fürst Vladimer und fasste die Ereignisse zusammen, wie er sie kannte. Er brauchte kaum eine Verschlüsselung, befand er, als er seinen Stift zum letzten Mal anhob; seine Schrift war inzwischen ohnehin kaum noch leserlich.
    Der Zug wurde langsamer, denn er musste durch einen Tunnel fahren, bevor er seinen letzten Abstieg in Richtung Küste begann. Da die Lichtgeborenen nicht ohne Unbehagen in den dunklen Tunnel vordrangen und die Nachtgeborenen ihn nur bei Nacht warten konnten, war die Strecke hier in nicht besonders gutem Zustand, und der Zug kroch sie mit kaum mehr als Schritttempo entlang.
    Ein Peilruf streifte ihn. »Ich dachte«, sagte seine Frau, »du wolltest dich hinlegen.«
    Bedächtig faltete er den letzten Brief zusammen, adressierte den Umschlag und steckte ihn in seine Jacke. »Das wollte ich auch. Aber ein Brief führte zum nächsten. Ich habe an die Kinder geschrieben …«
    Er hielt ihr den einen Brief für ihre Töchter hin. Sie las ihn und gab ihn mit einem gedämpften »Er ist perfekt, Bal – ich würde kein Wort ändern« zurück.
    Er spürte ihre Neugier, als er die anderen Briefe zusammenraffte und in das Ausgangsfach des Schreibetuis schob, aber sie fragte nicht, an wen er geschrieben hatte. Er würde das Etui in die Obhut des Stewards geben. Wenn Balthasar überlebte, würde er es sich später zurückholen, wenn nicht, würden die Briefe an ihren Bestimmungsort finden.
    Er schrieb eine hastige Notiz mit Anweisungen, steckte sie in das Etui, legte es dann auf den Tisch vor sich und beugte sich hinüber, um Telmaines kleine, behandschuhte Hand fest in seine zu nehmen. Bei der geringen Geschwindigkeit des Zuges waren selbst im Tunnel der Puls und das Rattern der Räder gedämpft.
    Als die Fahrgeräusche sich zum Ende des Tunnels hin änderten, hörten sie einen schweren Aufprall über sich, als sei ein Körper mit den Füßen voraus auf einer hohlen Kiste gelandet. Telmaine sog zischend die Luft ein. Der Griff, mit dem sie seine Hand umfangen hielt, war plötzlich schmerzhaft. Balthasar streckte die linke Hand aus, um nach der Pistole in seiner Tasche zu tasten, obwohl der Reflex die Unvernunft selbst war – eine Pistolenkugel durch die Hülle des Waggons würde sie so gewiss töten wie jeder Angriff von außen.
    Telmaine sagte nur ein einziges Wort: »Nein«, und es folgte ein zweites, gleitendes Geräusch und ein sich entfernendes Kreischen. Telmaines Mund und ihre blinden Augen weiteten sich in einem stummen Schrei der Qual.
    »Es ist alles in Ordnung«, murmelte Balthasar, obwohl er nicht wusste, ob er die Wahrheit sprach oder log, aber er reagierte reflexartig auf diesen Gesichtsausdruck. Er erwiderte ihren Griff, so fest er konnte, ohne ihr seinerseits Ungemach zu bereiten. »Es ist alles in Ordnung. Langsame, tiefe Atemzüge. Atme ein, atme aus. Du weißt, wie es geht.« Wenn sein eigenes Herz nicht gehämmert hätte wie eine zu stark aufgezogene Uhr, hätte er weitaus autoritärer geklungen. Als der Zug Geschwindigkeit aufnahm, spitzte Balthasar die Ohren, um neben dem Stampfen der Dampfmaschine und dem Rattern der Fahrwerke irgendwelche nicht eisenbahntypischen Geräusche wahrzunehmen.
    Telmaine stieß ein ersticktes Schluchzen aus und zog seine gequetschte Hand an die Lippen. »Ich musste es tun«, flüsterte sie. »Ich musste es tun. Er wollte unseren Tod. Ich spürte … er hatte etwas bei sich, das … oh, bei dem einzigen Gott, Bal, ich habe ihn getötet.«
    Er

Weitere Kostenlose Bücher