Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
nicht störte.
»Das war keine beiläufige Frage, nicht wahr?«, bemerkte Telmaine leise, als der Steward gegangen war.
»Nein«, bestätigte Balthasar. »Obwohl ich mir nicht sicher bin, was ich dadurch hätte erfahren können. Es beruhigt mich ein wenig, dass er die beiden recht gewöhnlich zu finden scheint.«
»Dieses Gefühl von Kälte und Grauen habe ich nicht wahrgenommen, als ich eingestiegen bin«, stellte Telmaine fest.
Als sie die Stirn runzelte, sagte er hastig: »Nein, versuche es nicht. Ich dachte daran, einen Besuch zu machen – ein Arzt, der einen anderen aufsucht –, aber sollten wir eine Konfrontation provozieren, laufen wir Gefahr, bis Einbruch der Nacht festzusitzen.« Oder überhaupt nicht am Ziel anzukommen, dachte er. »Es ist zu unserem Vorteil abzuwarten. Und höchstwahrscheinlich sind die beiden, was sie zu sein scheinen.« Er schüttelte ein wenig kläglich den Kopf. »Vor drei Nächten wäre alles, was mir Sorgen gemacht hätte, das Risiko einer Ansteckung gewesen.«
»Hm«, sagte sie. »Vor drei Nächten war ich mit Florilinde und Amerdale auf dem Rückweg nach Minhorne, mit Ishmael als Begleiter.«
Das Schweigen lastete voller Trauer und unausgesprochener Worte auf ihnen.
»Warum legst du dich nicht ein wenig hin«, sagte Balthasar schließlich. »Du wirst deine Kraft noch brauchen.«
Sie nickte erschöpft, stand auf und hielt sich wegen des Schaukelns des Zuges an der Wand fest. »Und du? Gesellst du dich zu mir?«
»Ich schreibe diese Briefe, von denen ich gesprochen habe, und dann schließe ich mich dir an. Nach diesen Éclairs fühle ich mich schon viel besser.«
Sie gab einen leisen, kehligen Laut von sich, der ein Lachen hätte sein können. »Wage es nicht, die Kinder auf die Idee zu bringen, es sei möglich, drei Éclairs hintereinander zu essen.«
»Niemand braucht ein Kind auf diese Idee zu bringen«, erwiderte Balthasar. Sein Sonar folgte ihr, als sie in ihr Abteil ging und sich hinlegte.
Er rief abermals nach dem Steward, damit er ihm ein Schreibetui, einen Stift und Papier brachte. Wie schrieb man einen Brief an eine Sechsjährige, der die Summe all dessen enthalten konnte, was er ihr im Laufe eines ganzen Lebens zu sagen gehofft hatte? Einen Brief, der erklärte, warum er oder er und Telmaine plötzlich auf katastrophale Weise aus dem Leben dieses Kindes verschwunden waren? Er hielt den Griffel in der Hand und kämpfte mit der Schwere der Last und der Erkenntnis, dass das, was er tun wollte, nicht getan werden konnte. Am Ende schrieb er an jede seiner Töchter einen Brief, ganz ähnlich denen aus den vergangenen zwei Sommern, als sie an der Küste gewesen waren und er in der Stadt und sie vermisst hatte. Er hielt den Brief schlicht und liebevoll, geeignet für ihre gegenwärtige Fähigkeit, ihn zu verstehen. Dann schrieb er einen dritten Brief, einen, von dem er hoffte, dass sie ihn in fünfzehn oder zwanzig Jahren lesen würden. Er bat sie um Verzeihung, versicherte sie seiner und Telmaines Liebe und wünschte ihnen Glück. Die Worte sagten nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er damit ausdrücken wollte, aber er wusste, dass er nicht mehr tun konnte.
Danach spannte er eine weitere Seite in den Rahmen und adressierte sie an Olivede. Er hatte es versäumt, ihr von Lysanders Rückkehr zu erzählen, und musste das nachholen. Was den Abschied von ihr betraf – nun, sie war eine Magierin und er ihr liebender jüngerer Bruder. Liebe brauchte nur bestätigt, nicht bewiesen zu werden. Er faltete und adressierte den Brief und legte ihn auf die anderen.
Der fünfte Brief … er erwog lange Zeit seine Möglichkeiten, während der Zug weiter ratterte und schrill pfiff. Er hielt seinen Stift ruhig, bis der Zug aufgehört hatte, über eine komplizierte Abfolge von Weichen zu ruckeln, und lächelte schief bei der Erinnerung an die Diskussion über die Ausbildung und Anstellung von Lichtgeborenen als Weichenstellern in einer Zeit, da die Lichtgeborenen sich unter nichtmagischer schneller Personenbeförderung noch nichts anderes als eine Fahrt mit der Pferdekutsche hatten vorstellen können. Er beschloss, sich auf einen nachtgeborenen Text zu beschränken, da Floria ja die geritzten Buchstaben schon kannte. Allerdings würde er den Text verschlüsseln. Etwas anderes hätte sie niemals verziehen. Aber er konnte Lebewohl sagen und schreiben, was er empfand. Falls der Brief in ihre Hände fiel, würde er tot sein, und es würde ihn nicht mehr scheren, wenn sie das
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