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Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Titel: Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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Florilinde erzählte ihr mit großen Augen etwas über die pferdelose Kutsche, in denen einige der Gäste gekommen waren – alles Mechanische faszinierte sie –, während die fünfjährige Amerdale ihr anderes Ohr in Beschlag nahm und von den Vögeln im Vogelhaus schwärmte. In jedem Arm hielt Telmaine eine ihrer gelenkigen, zappeligen Töchter, die sich mit ihren kleinen Händen an ihr festhielten, und mit jeder Berührung ihrer Haut flossen die Gedanken der Mädchen wie klare Bäche durch den Geist ihrer Mutter. Amerdales Gedankenwelt war wie die von Balthasar, offen und erfüllt von unstillbarer Neugier. Florilindes Geist war stellenweise getrübt durch Eifersucht wie ein Flusslauf, in dem etwas Schmutz vom Grund aufgewühlt wird.
    Telmaine hatte als Kind ihrer Kinderfrau ein einziges Mal gesagt, sie wüsste, was andere Menschen dachten, wenn sie sie berührte, und war in Tränen ausgebrochen angesichts der Bestürzung, des Schreckens und der Furcht, mit der diese Frau darauf reagiert hatte. Das hatte sie wesentlich stärker beeinflusst – und einen geradezu unauslöschlichen Eindruck hinterlassen – als der schockierte Ausruf der Kinderfrau: »Bitte, Hoheit, sagt so etwas niemals wieder. Es gehört sich nicht. Es ist … Magie.« Magie, das hatte sie bereits in Amerdales Alter begriffen, war etwas Verdorbenes. Magie war das, was sich vor achthundert Jahren zugetragen hatte, als den Nachtgeborenen die Fähigkeit genommen wurde, im Sonnenlicht zu leben. Magie war das, was in dem Teil der Stadt passierte, den Mädchen wie sie nicht betraten. Magie war das, was die Lichtgeborenen nach Sonnenaufgang trieben. Später hatte sie aus einem schlecht gedruckten Pamphlet ihres Bruders mit dem Titel »Profane und ekstatische Magie« – das weder zu ihrer Lektüre noch zu seinem Besitz bestimmt war – erfahren, was sie war: ein taktiler Gedankenleser, wie jeder, selbst der schwächste Magiegeborene, und sie hatte daraus gelernt, worin aus Sicht der Männer das Vermögen einer taktilen Gedankenleserin insbesondere bestand. Und später dann hatte sie begriffen, dass die meisten Männer meinten, jede Frau solle so eine taktile Gedankenleserin sein und in der Lage, jeden ihrer Wünsche zu kennen und zu befriedigen, noch bevor sie ihn ausgesprochen hatten.
    Das hatte sie früher erbittert. Jetzt machte es sie nur noch traurig. Kein Wunder, dass Männer an diesem Ideal festhielten – und die Frauen auf ihre Art ebenfalls. Sie alle waren eingeschlossen in das Gefängnis ihres eigenen Denkens, dazu verurteilt, die Wahrheiten anderer nie kennenzulernen. Gleichzeitig erfüllte sie nichts so mit Furcht wie die Vorstellung, ihre eigenen Geheimnisse könnten erkannt und offengelegt werden, und diese Furcht war so groß, dass Magie ignoriert, denunziert und auf die Halbwelt beschränkt werden musste. Vor allem durfte Magie auf keinen Fall die Welt der Salons und Tanzsäle der guten Gesellschaft erreichen. Selbst mit ihren fünf Jahren hatte sie damals eines begriffen: Niemand durfte von ihrer Fähigkeit erfahren.
    Aber die Magie entschädigte sie auf ihre eigene Weise. Sie brauchte niemandes Absichten falsch einzuschätzen und niemals zu fürchten, betrogen zu werden. Sie konnte die wichtigste Entscheidung im Leben einer Frau voller Zuversicht treffen und eine Ehe mit der Sicherheit eingehen, gut gewählt zu haben.
    Sie beantwortete die aufgeregten Fragen ihrer Töchter nach dem Ball, ihrem Kleid, ob der Erzherzog da sein würde, ob sie die ganze Nacht tanzen würde, all die Dinge, die sie sich aus dem Tratsch der Kinderfrauen und den romantischen Geschichten, die man kleinen Mädchen erzählte, zusammengereimt hatten. Sie herzte und küsste die beiden und sagte ihnen, sie sollten brav sein und tun, was die Kinderfrauen ihnen auftrugen. Dies schärfte sie besonders Florilinde ein, die allmählich die Gesellschaftsordnung zu begreifen begann und herauszufinden versuchte, wie weit sie gegenüber den Kinderfrauen gehen konnte. Dann überließ sie die beiden ihrem Spiel, winkte noch einmal, zog ihre Handschuhe wieder an und strich sie sich hoch bis zu den Schultern. Anders als Merivans anklagende Bemerkung nahelegte, war an ihrem Kleid in puncto Anstand nichts auszusetzen: Hochgeschlossen mit ebenfalls geschlossenem Mieder ließ es kaum ein Fleckchen Haut unbedeckt und zufälliger Berührung preisgegeben. Doch es war in dem neuen leichteren Stil gehalten und bestand aus weniger Schichten Stoff, als es noch vor Kurzem üblich gewesen war.

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