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Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Titel: Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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seines Torsos zu verbergen, und ein Polster, das ihm die seinen Schultern entsprechende Korpulenz schenkte. Theaterschminke verbarg seine Narben, seine Wangen waren voll, er hatte ein massiges Doppelkinn – um die Form seines Kiefers zu maskieren –, und sein Haar bedeckte seine Ohren. »Nicht viele Menschen nehmen Zähne richtig wahr, und sie haben nicht die Gewohnheit zu lächeln, es sei denn, sie fühlen sich wohl. Aber seien Sie vorsichtig.« Ruther gestattete ihm nicht, sich selbst Schuhe auszusuchen. »Sie sind ein wohlhabender Provinzler. Sie tragen Schuhe, die der Mode entsprechen und Ihrer Eitelkeit Rechnung tragen, obwohl sie ein wenig zwicken. Vor allem werden sie Sie daran erinnern, sich nicht wie ein Schattenjäger auf der Jagd zu bewegen.«
    Die Schuhe drückten schon jetzt ein wenig, und wenn er sehr viel länger in ihnen gegangen war, würden sie noch sehr viel mehr drücken. Er hielt eine Kutsche an und bezahlte sie sofort, obwohl die Provinzler, die er kennengelernt hatte, dazu neigten, in dieser Hinsicht zu knausern. Dann ließ er sich zwei oder drei Blocks von seinem Ziel entfernt in einem kreisförmig angelegten Park absetzen. Den weiteren Weg legte er zu Fuß zurück, wobei ihn seine eingezwängten Hacken daran erinnerten, seinem Gang etwas Geziertes zu geben. Zumindest hatte er als aus der Provinz stammender Stadtbesucher einen Vorwand, sich freizügig seines Sonars zu bedienen. So konnte er sich nicht nur ein Bild von der Straße vor ihm machen, wie ein Einheimischer es vielleicht tun würde, sondern auch von den Häuserfronten mit ihren Eingängen und Treppen sowie von den Kutschen und Droschken. Er gestattete sich, stehen zu bleiben und eine motorbetriebene Kutsche zu mustern wie ein Mann vom Land, und blies seine aufgedunsenen Wangen auf, voller Missbilligung angesichts des Gedankens, dass ein derart neumodisches Gefährt das Vieh erschrecken könnte. Außerdem nahm er Notiz von den Menschen, die in den Straßen unterwegs waren, obwohl er sich zusammenreißen musste, damit sein Peilruf nicht zu durchdringend wurde, um den Regeln der Höflichkeit noch zu genügen. Keinesfalls durfte er in einen Streit mit einem verärgerten Begleiter geraten, der ihn beschuldigte, den Anstand einer Dame verletzt zu haben. Er kam sich vor, als sei er in dichtem Unterholz auf der Jagd.
    Tercelle Amberleys hohes Haus erschien nicht anders als zuvor, mit der Treppe, die in elegantem Schwung zur breiten Eingangstür führte, feinen Steinmetzarbeiten, die unter seinem Sonar Chimären klirrender Echos entstehen ließen, und dem üppigen Bewuchs des Dachgartens, der das obere Stockwerk zierte. In jüngster Zeit war es in Mode gekommen, einen geschmückten Fächer in die Tür zu hängen zum Zeichen, dass der Hausbesitzer bereit war, Besucher zu empfangen. Die privaten Codes, die solche Fächer übermittelten, hatten so manche Intrige persönlicher wie politischer Natur befördert. Die Tür des Hauses Nummer zwanzig schmückte keinerlei Zierrat, und nichts deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war. Er musterte sie eine Spur länger als das Haus daneben und setzte seinen langsamen Gang fort. Zwei Häuser weiter erreichte er die Straßenecke und blieb stehen, um ein längliches Stück Papier zu entfalten und zu betasten. Ein Provinzler mochte zwar wohlhabend sein und sich einiger Wertschätzung in seiner Heimat erfreuen, aber er brauchte kein großer Leser zu sein. In der Zwischenzeit lauschte er auf seine Umgebung. Dann drehte er sich um und peilte mit einiger Verblüffung die Häuser, an denen er gerade vorbeigekommen war, als falle ihm gerade erst auf, dass er sich verirrt haben könnte. Dabei galt sein besonderes Interesse einer Bewegung, die er kurz zuvor gehört hatte – auf der Kellertreppe des Hauses Nummer zwanzig hatte sich jemand weggeduckt. Eine zu schnelle Bewegung, als dass er nun hätte hingehen und die Person ansprechen können: »Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht den Weg weisen …« Er spürte, wie ihn diese seltsame Ruhe ergriff, die ihm aus den Schattenländern vertraut war und die Gefahr signalisierte. Sie sorgte für klare Gedanken. Er schob sich das Papier in die Weste und ging die Treppe zu Haus Nummer vierundzwanzig hinauf, vor dessen Tür ein Zierfächer leicht in der Brise schaukelte. Schuhe hin, Schuhe her, er wusste, dass sein Schritt weich, glatt und leise war.
    Eine Haushälterin öffnete. Sie musterten einander von Kopf bis Fuß, wobei er wahrscheinlich weniger

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