Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
gesucht?«
»Ich habe einen Brief.« Mit den Fingerspitzen hielt der junge Mann einen Umschlag hoch, wobei er dafür sorgte, dass der Brief außerhalb Ishmaels Reichweite blieb.
Ishmael fischte eine Münze aus seiner Börse. Die Männer rangen kurz darum, wer nachgeben und als Erster das erstrebte Gut empfangen würde. Die Transaktion wurde vollendet, und Ishmael beobachtete, wie der junge Mann verschwand. Dann zog er sich in den Eingang eines Ladengeschäfts der Lichtgeborenen zurück, das während der Nacht geschlossen hatte, lehnte sich gegen die bemalten Rollläden, zog einen Handschuh aus und strich mit der Fingerspitze über den Brief: Ich brauche Ihre Hilfe. Kommen Sie dorthin, wo wir uns schon einmal getroffen haben. T.A.
Also hatte sie seinen Rat fortzugehen ignoriert. Er schnupperte an dem Brief und versuchte, die Düfte der Stadt auszublenden. Er erinnerte sich, dass sie bei ihrer Begegnung ein schweres Parfüm getragen hatte, sei es aus Gewohnheit, sei es, um den ihr nach der Geburt noch anhaftenden Blutgeruch zu überdecken. Diesem Brief haftete jedoch weder Parfüm noch Rauch an. Er glaubte ein wenig Fett zu riechen, das vielleicht von seinen Handschuhen kam, denn er hatte an dem Automobil gearbeitet. Eine Berührung verriet ihm nichts, abgesehen davon, dass es sich um teures Papier handelte; er war nicht Magier genug, um dem Unbelebten Eindrücke abgewinnen zu können. Der Brief war energisch geritzt, doch Erregung genügte, um die Hand einer Frau schwer zu machen. Nichtsdestoweniger …
Er ging zu dem Wohnheim am Rand der Flussmark, wo er nach seiner ersten Ankunft in der Stadt gestrandet war und noch immer ein Zimmer unterhielt. Das Haus diente einem bunten Gemisch von störrischen Junggesellen, Homosexuellen, Nebenrollendarstellern und hie und da einem flüchtigen Ehemann als Heimat oder kurzzeitiger Unterschlupf. Die beiden alten Männer, denen das Haus gehörte, waren so lange miteinander verheiratet wie ein altes Ehepaar und glücklicher als die meisten Paare. Und sie hatten ein erheblich interessantes Leben in Varieté und Theater und mit unvermindert scharfem, meist fäkalsprachlich geäußertem Interesse an Politik und Tratsch. Ganz zu schweigen von ihren anderen Talenten.
»Ich muss zu einem Haus im Lagerhansdistrikt, und vielleicht muss ich auch hinein«, erklärte Ishmael, als er im Empfangsraum der beiden saß, der mit Erinnerungsstücken aus der Theaterzeit der beiden überfüllt war. Bei seinem ersten Aufenthalt hier war er ständig zusammengezuckt und hatte Bewegungen am Rande seiner Wahrnehmung sondiert, wenn seine Peilrufe auf eines der glänzenden Schaustücke gestoßen waren.
»Lagerhans, eh?«, sagte Ruther di Sommerlin, geborener Roberd Sommer, einst berühmt in den besten Kabaretten als Minhorner Lilie. In dem gebeugten alten Mann weilte noch immer der Geist der hochgewachsenen, sinnlichen Bühnenschönheit. »Es ist ein Jammer, dass Sie den Körper eines Trolls haben, mein Junge. Das schränkt Sie so sehr ein.«
»Leider komme ich nach meinem Vater, nicht nach meiner Mutter.«
»Das tun die meisten Männer.« Er schnalzte mit der Zunge. »Und sie wollen nicht, dass einer von uns die Dinge für sie erledigt. Poppy könnte ein wenig Ablenkung gebrauchen.« Er schüttelte den Kopf. »Der Junge nimmt wieder Drogen. Er hat einen schrecklichen Hunger.«
Der Neunzehnjährige hatte etwas, das sich vielleicht als eine fatale Unfähigkeit erweisen würde, sich mit seiner eigenen Natur zu versöhnen. »Ich werde mit ihm sprechen, wenn ich zurückkomme«, sagte Ishmael. Obwohl er Poppys spezielles Gebrechen nicht teilte, wusste sein Trunkener Gott, dass er alle möglichen Methoden der Selbstopferung ausprobiert hatte, bevor er sich schließlich in seiner Haut wohlgefühlt hatte. Vielleicht würde er auch ein Wort mit Balthasar Hearne sprechen, sobald es dem Arzt besser ging. »Es ist nicht so, dass ich ihn für diese Aufgabe nicht will, aber ich weiß nicht, in was ich ihn hineinschicken würde.«
»Für einen frauenliebenden Magier sind Sie ein guter Mann«, bemerkte Ruther. Einmal mehr peilte er ihn mit verdrossener Miene. »Am besten belassen wir Sie als Mann. Als Frau müssten Sie ein fettes altes Weib sein.«
Ishmael verließ das Haus in der Verkleidung eines Provinzadeligen aus dem Tiefland in gesundem mittlerem Lebensalter, sein Haar verlängert und im Nacken zusammengebunden und einen modischen Dreispitz auf dem Kopf. Er trug einen Mantel mit hoher Taille, um die Länge
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