Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
gespreizt unter ihren schweren, schicklichen Röcken in der erschlafften Unschicklichkeit des Todes. Schnell ging er neben ihr in die Hocke und streifte einen Handschuh ab, um ihre nackte Haut zu berühren. Sie war noch warm, ihr Tod so frisch, dass er die letzten verblassenden Impressionen von Leben spüren konnte. Kein Zeichen von einer Messerwunde oder Schussverletzung. Als er über ihre Kehle strich, spürte er einen jähen, intensiven Druck auf seiner eigenen. Also erwürgt.
Der Gehstock landete klappernd auf dem Boden. Die Wände hallten klirrend von Ultraschall wider, und der Schuss, der über ihn hinwegpfiff, während er sich fallen ließ, war nicht minder ohrenbetäubend. Ishmael erwiderte das Feuer, ohne sich umzudrehen. Ein Schuss mit der Fleisch und Knochen zertrümmernden Wucht eines großen Kalibers; es folgte ein halb ersticktes, qualvolles Aufkreischen. Er hörte Schritte im Flur, und eine Kugel bohrte sich in die Tür. Er warf sich gegen die Terassentür, fing im Laufen seinen Gehstock ab und sprang von der oberen Stufe der Gartentreppe auf die Mauer. Eine weitere Kugel explodierte unter ihm in der Mauer, sodass sich ihm Steinsplitter in Arm und Taille bohrten. Er rollte sich von der Mauer in den benachbarten Garten, wobei der Gehstock zerbrach. In dem Raum, den er soeben verlassen hatte, kreischte eine Frau: »Er hat sie getötet, er hat sie getötet.« Ishmael erkannte die Stimme nicht, aber sie klang ehrlich entsetzt, oder sie hatte ihr Entsetzen gut einstudiert. In geduckter Haltung rannte er an der Mauer entlang und bahnte sich mithilfe schneller, präziser Peilrufe seinen Weg zum hinteren Tor. Kugeln krachten gegen Mauern; über seinem Kopf zerbarst Blätterwerk. Er duckte sich in den Schutz des Tores, hielt kurz inne, überschlug, wie viele Kugeln abgefeuert worden waren und wie lange das Nachladen dauern würde, und rannte dann zum Tor hinaus und im Schutz der Mauer durch die Hintergasse. Er hörte Rufe; eine letzte Kugel spaltete einen Pflasterstein unter seinen Fersen, dann hatte er die Straßenecke erreicht und war fürs Erste außer Gefahr. Zwei weitere Kreuzungen, und er stolzierte in seinen modischen Schuhen wieder geziert die Straße entlang, seine Jacke zugeknöpft und einen Ausdruck der Verärgerung auf seinem Gesicht angesichts der billigen Fertigung des modernen Gehstocks. Vielleicht würden Passanten den Schweiß auf seinem Gesicht für den eines untrainierten Mannes in einer warmen Sommernacht halten. Er schien reputierlich genug, um mit einem Pfiff einen Kutscher zum Halten zu veranlassen. Als Ishmael einstieg, verbarg er sorgsam seinen blutverschmierten Arm.
Ishmael
Ein Bordell in der Flussmark schien ein hervorragender Ort zum Untertauchen. Männer würden es bevorzugen, ihre Nachbarn nicht zu kennen, und auch wenn die Damen untereinander tratschten und spekulierten – sie waren eine abgeschiedene kleine Gemeinschaft, die selten das Bedürfnis verspürte, ihre Spekulationen zu teilen, erst recht nicht mit Fremden. Ishmael hatte schon früher das Regenbogenhaus benutzt, und zwar aus genau diesen Gründen. Diesmal bot es sich jedoch auch an, weil es in der Nähe von Olivede Hearnes Klinik lag. Er bezahlte für ein Einzelzimmer für den Tag und für heißes Wasser, Verbandszeug, Tee und Brötchen. Als er allein war, zog er Handschuhe und Hemd aus, badete und verband seine blutende Hand und seinen Arm. Danach quälte er sich aus seinen Schuhen, inspizierte seine aufgeschürften Fersen, wickelte sich in die Decke und lehnte sich an das Kopfbrett – das nicht annähernd so bedeutungsvoll war wie das in Guillaumes Gästezimmer –, um zu trinken, zu kauen und zu grübeln.
Die ganze furchtbare Angelegenheit war zu verworren für seinen Verstand. Ihm missfiel die Art, wie sie Menschen zu Opfern machte, die gewöhnlich keine waren: die Unschuldigen oder die Privilegierten. Der Gelehrte Dr. Balthasar Hearne und seine Tochter waren beides, und Tercelle Amberley war, ob nun unschuldig oder nicht, die zukünftige Braut von Ferdenzil Mycene gewesen. Die Tatsache, dass Tercelle gerade entbunden hatte, würde gewiss selbst einem unfähigen Leichenbeschauer auffallen. Es würde … interessant sein zu beobachten, was tatsächlich bekannt wurde. Vorausgesetzt, Ishmael blieb lange genug in Freiheit und am Leben, nachdem er so sorgfältig in das Szenario von Tercelles Ermordung – wenn nicht sogar seiner eigenen – einbezogen worden war. Bevor er irgendetwas anderes unternahm, musste er
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