Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Herden auf Schritt und Tritt folgen.«
»Ich bin mit dir verheiratet!«, platzte sie heraus. »Obwohl ich genau in diesem Moment nicht weiß, warum! Warum musstest du Tercelle Amberley aufnehmen?« Sofort spürte sie seine Gekränktheit und Reue und rief: »Es tut mir leid, es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen.«
»Es entspricht aber der Wahrheit«, antwortete er ihr mit gemessener Stimme. »Aber ich konnte damals nicht wissen, was ich jetzt weiß, und als die Sonnenaufgangsglocke läutete, hätte ich ihr nicht die Tür weisen können.«
»Mama, Papa, streitet nicht«, flehte Amerdale.
Balthasar legte einen Arm um seine kleine Tochter und bettete seine Wange an ihren Kopf.
»Ich will Flori zurück«, wimmerte sie. »Ich will nach Hause.«
»Das will ich auch«, wisperte Balthasar. »Das will ich auch. Aber mein Liebes, wir haben mutige Freunde, die alles in ihrer Macht Stehende tun, um uns zu helfen, Flori zu finden und sicher nach Hause zurückzukehren.«
Telmaine sah sich außerstande, einen Schmerz zu lindern, der sie selbst ebenso quälte wie ihren Mann und ihre Tochter. Sie kauerte sich neben die beiden in geteiltem und dennoch einsamem Elend.
Auf einer Straße, die sie nicht erkannte, wechselten sie abermals die Kutschen. Ihre protestierenden Sinne, man könne Balthasar diese Prozedur nicht zumuten, wurden nur durch Balthasars Warnung zum Schweigen gebracht, sie dürfe keine Aufmerksamkeit erregen. Auch wenn ihr ein Wappen fehlte, war die neue Kutsche luxuriös, gut gefedert und so groß, dass Balthasar sich auf der Bank ausstrecken konnte. Telmaine saß ihm gegenüber, und Amerdale bettete den Kopf auf ihren Schoß. Ihr Sonar verriet ihr, dass Balthasars Züge sich bei jedem Ruck verkrampften, und sie wünschte, sie hätte ihn in den Schlaf gelullt, wie Ishmael und Olivede es getan hatten.
Plötzlich hob Balthasar den Kopf. »Ich weiß, wo wir sind«, sagte er verblüfft. Sie streckte die Hand nach dem Fensterladen der Kutsche aus, um ihn herunterzulassen und zu peilen, aber Balthasar hielt sie zurück. »Besser nicht«, erklärte er. »Wir werden in Kürze da sein, und es ist vielleicht das Beste, dass niemand peilt, wer in dieser Kutsche sitzt.«
»Warum? Wo sind wir?«
»Beim erzherzoglichen Stadtpalast. Ich erkenne es daran, wie sich hier das Pflaster anfühlt.«
»Wahrhaftig …!«, rief sie. Ihre erste Reaktion war reines Entsetzen bei dem Gedanken, dass ausgerechnet jetzt der Palast ihr Ziel darstellte, da ihr gesellschaftlicher Panzer derart aus den Fugen geraten war. »Ich habe nichts Passendes anzuziehen«, protestierte sie, obwohl das das geringste Problem war. Balthasar, ihr lieber Balthasar, lachte. Sofort schnappte er nach Luft und hielt sich die Rippen. »Mein liebes Herz«, keuchte er, »du änderst dich nie.«
»Nein«, erwiderte sie, »es ist …«
»Ich weiß, was es ist«, sagte er sanft und griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, was es ist.«
Sie drückte kurz seine Hand, bevor sie sie wieder losließ, um zu versuchen, ihren Schleier und ihr Kleid halbwegs zu ordnen. Balthasar gab sich keine Mühe, ihr zu versichern, dass sie ihr Ziel erreichte. Sie spürte, dass er ein wenig davon verstand, wie entblößt sie sich fühlte, als Flüchtling im erzherzoglichen Palast zu erscheinen mit einem verletzten Ehemann, nur einer Tochter, weil die andere entführt worden war, dazu der Schwester ihres Ehemannes, eine praktizierende Magierin, und dem berüchtigten Ishmael di Studier. Nicht einmal Balthasar konnte das Ausmaß des potenziellen Skandals erahnen, der sie umgab. Er sagte: »Ich bin mir sicher, dass wir uns so lange wie möglich in unseren Räumen aufhalten können.«
Die Kutsche beschrieb eine letzte vertraute Kurve, machte eine unvertraute Biegung und hielt dann an. Nachdenklich meinte Balthasar: »Sie haben uns zum Nebeneingang gebracht. Offensichtlich versuchen sie, dafür zu sorgen, dass man uns nicht beobachtet.« Sie hörte, wie Befehle erteilt und entgegengenommen wurden. Dann nahm sie die schlafende Amerdale in die Arme, die protestierend wimmerte, drückte den Rücken durch und bereitete sich darauf vor, sich der hochmütigen Dienstbarkeit des erzherzoglichen Hauspersonals und der Neugier der erzherzoglichen Familie und ihrer Gäste zu stellen.
Telmaine
Es gab keine Neugier. Sie wurden in ein Zimmer in einem Teil des Hauses gebracht, in dem sie noch nie zuvor gewohnt hatte, wenn sie standesgemäß als herzogliche Cousine den Festlichkeiten des Hauses
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