Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
beigewohnt hatte. Die Treppe war vom Nebeneingang her zugänglich, jedoch so gelegen, dass sie nicht direkt vom Eingang aus zu erkennen war, und die Räume lagen abgeschieden im hinteren Teil des Gebäudes an einem geschlossenen, von Mauern umgebenen Garten. Verglichen mit den Räumen, die den adeligen Gästen zugewiesen wurden, waren diese Zimmer schlichter dekoriert und möbliert, die Möbel zwar gut gepflegt, aber ihrem Alter entsprechend schon etwas abgenutzt.
Olivede Hearne erhob sich aus einem Sessel, um sie mit einem Ausdruck von solch unverstellter Erleichterung zu begrüßen, dass Telmaine nicht umhin konnte, impulsiv Sympathie für sie zu empfinden. So beängstigend es für Telmaine war, unvorbereitet hier einzutreffen, musste es für die Heilermagierin noch beängstigender gewesen sein, denn sie hatte Balthasars bescheidene Jugend geteilt und war wahrscheinlich noch nie im Leben auch nur durch den Dienstboteneingang in ein so prächtiges Haus gekommen.
Olivede fasste sich, folgte den Lakaien, die Balthasar in das Hauptschlafzimmer trugen, und trat vor, um die Männer dabei zu überwachen, wie sie ihn ins Bett legten. Die Lakaien versuchten, sie abzuwehren, und beteuerten, es seien Ärzte gerufen worden, aber sie ignorierte sie und beugte sich vor, um ihren Bruder sanft zu untersuchen. Sie verzichtete auf offenkundig magische Gesten, aber Telmaine erkannte das Gefühl von Leichtigkeit, das sie mit in ihrer Nähe gewirkter Magie in Verbindung zu bringen gelernt hatte. Sie konnte nicht protestieren, da sie wusste, wie sehr es Balthasar Linderung verschaffte. Er lag behaglich in einer Überfülle von Kissen, als zwei Ärzte des Erzherzogs herbeikamen, beide von tadelloser Gestalt und eleganter Gewandung und so hoffärtig, dass sie die Ehefrau kaum zur Kenntnis nahmen und die Schwester vollends ignorierten. Olivede protestierte nicht gegen ihre Entlassung durch die erhabenen Herren; Telmaine erhob sehr wohl Einwände, obwohl es ihr herzlich wenig nutzte. Sie fand sich mit ihrer Tochter ins Wohnzimmer verbannt, hinter fest verschlossener Tür.
»Arrogante Söhne einer …«, murrte Olivede, bevor Telmaine sie zum Schweigen brachte.
»Ich entschuldige mich«, sagte die andere Frau steif.
»Oh, ich bin ganz deiner Meinung«, murmelte Telmaine. »Aber die Kinder brauchen es nicht zu hören.« Zu spät merkte sie, dass sie in der Mehrzahl von ihnen gesprochen hatte, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
Olivede legte ihr bedächtig eine Hand auf den Ärmel. Telmaine machte keine Anstalten, den Arm zurückzuziehen. »Sie werden sie finden«, sagte die Magierin. »Du musst daran glauben.«
Telmaine schluckte. »Wo ist Baron Strumheller?«
»Erstattet Fürst Vladimers Leutnant Bericht.« Sie schüttelte staunend den Kopf. »Was für ein außergewöhnlicher Mann Strumheller doch ist. Ich hatte von ihm gehört – einer der Heiler, mit denen ich zusammenarbeite, ist mit auf seinen Streifzügen gewesen –, aber ich bin ihm zuvor nie begegnet.«
Telmaine verspürte eine jähe, ungehörige Eifersucht. »Geht es ihm gut?«
»Ich habe für die Lungen und die schlimmsten Brandwunden getan, was ich konnte. Das Stimulanz wird seine Wirkung verlieren, und die Auswirkungen auf seinen Geist … vermutlich hat er persönlich Schlimmeres erlebt, obwohl ich durchaus bezweifle, dass er etwas in diesem Ausmaß durchgemacht hat – ich denke nicht, dass er während der Influenza-Epidemie in der Stadt war, und glaube kaum, dass die Epidemie sich bis in die Grenzlande verbreitet hat. Aber du hast ja keine Ahnung, wie schrecklich die Fähigkeit des Gedankenlesens dergleichen Ereignisse für einen Magier macht.« Sie legte den Kopf in den Nacken und entspannte den Hals. »Ich muss in die Flussmark zurück. Es war schlimm genug, es eine halbe Stadt davon entfernt zu spüren – ich will gar nicht darüber nachdenken, welche Wirkung es auf die Magier hatte, die sich dort aufgehalten haben. Sobald es Balthasar gut genug geht, werde ich seine Hilfe brauchen; er versteht sich bestens darauf, Menschen zu helfen, die schreckliche Dinge überlebt haben.«
»Du solltest nicht in die Flussmark zurückkehren, solange wir in Gefahr sind«, entgegnete Telmaine, entsetzt bei dem Gedanken, dass Balthasar oder Ishmael wieder in die Flussmark zurückgehen könnten. Auch sie konnte die Katastrophe dort noch immer spüren – wie eine eitrige Wunde in ihrem Geist.
Olivede seufzte. »Wir werden für eine sehr, sehr lange Zeit mit dem Wiederaufbau
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