Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
leisen Gespräche verstummten, als sie Laura erkannten. Leonardo Tommasinis älterer Bruder trug seine Uniform und sah so erschöpft aus, als wache er seit vielen Stunden vor dieser Tür. Er kam Laura ein paar Schitte entgegen.
«Wie gut, dass Sie da sind, Signora Laura!»
Sie drückte seine Hand.
«Wie geht es Angelo?»
«Er lebt, Signora. Viel mehr sagen die Ärzte nicht. Man muss abwarten, sagen sie. Der Commissario hat viel Blut verloren.»
«Kann ich zu ihm?»
«Ganz sicher, Signora. Sein Vater ist schon seit Stunden bei ihm. Ich wollte den alten Herrn ablösen, aber er will nicht weg.»
Laura nickte.
«Kommen Sie, Signora Laura. Ich bring Sie hinein.» Sanft umfasste Tommasini, der Ältere, Lauras rechten Ellenbogen und führte sie zum Eingang der Intensivstation. Guerrinis Kollegen rückten zur Seite, nickten Laura mit gesenkten Köpfen zu und blickten scheu zu Boden.
Nein, dachte Laura, er wird nicht sterben. Das hier bedeutet nicht, dass er sterben wird. Er wird nicht sterben. Italiener neigen zur Dramatik. Ich auch.
Sie dachte diese Sätze immer wieder, während Tommasini sie durch einen neuen langen Flur führte, der Laura wie ein Albtraum vorkam, wie die geballte Wiederkehr aller Intensivstationen, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Es waren viele gewesen.
Nein, er wird nicht sterben. Das hier bedeutet nicht, dass er sterben wird. Er wird nicht sterben. Italiener neigen …
Eine Krankenschwester kam auf sie zu. Tommasini sagte irgendwas, die Schwester nickte und lächelte Laura zu. Ganz kurz lächelte sie, umfasste Lauras anderen Ellenbogen.
Italiener neigen zur Dramatik. Das hatte ihr Vater gesagt. Das hier hatte nichts zu bedeuten.
Eine Tür öffnete sich vor Laura, nein, die Tür war schon offen gewesen, der Raum sehr hell, und sie sah den Rücken von Fernando Guerrini, seinen gebeugten Kopf, das weiße Haar. Sie sah Monitore und Schläuche, Kurven auf flimmernden Bildschirmen.
Er wird nicht sterben. Das hier bedeutet nicht, dass er …
Tommasini ließ ihren Ellenbogen los und blieb zurück. Laura drehte sich nach ihm um, doch er war schon fort. Sie vermisste seine Hand. Als auch die Krankenschwester ihren Arm losließ, hätte Laura sie beinahe festgehalten.
«Es geht ihm etwas besser, Signora. Er wird spüren, dass Sie da sind.» Wieder lächelte die Schwester kurz und flüsterte: «Sie sollten den alten Herrn ablösen. Er wirkt sehr erschöpft.»
Noch immer hatte Laura keinen Blick auf Angelo geworfen, noch immer verdeckte der Rücken des alten Guerrini Angelos Kopf und Oberkörper. Sie tat einen Schritt nach vorn, einen zweiten.
Er wird nicht sterben … Sie versuchte, die sich wiederholenden Gedanken anzuhalten. Er schläft nur, dachte sie. Er liegt in einem künstlichen Koma. Er ist wunderschön. Ganz unversehrt.
In ihrem Hals saß ein Würgen, flüchtig wanderte ihr Blick über seine Brust, die Schläuche und Verbände, dann schnell wieder hinauf zu seinem Gesicht. Sein Bart war über Nacht gewachsen, kräftige schwarze und graue Stoppeln bedeckten seine Wangen und sein Kinn.
«Laura!» Fernando Guerrini fuhr auf. Sie legte einen Arm um die Schultern des alten Mannes. «Danke, dass du gekommen bist. Wenn du da bist, wird er nicht sterben. Er kann einfach nicht sterben, wenn du da bist. Seit ich hier sitze, habe ich Angst, dass er sich davonmacht. Es war nicht leicht, ihn festzuhalten, figlia mia. Sie wollten mich ständig wegholen, aber ich wusste, dass ich nicht gehen durfte, weil er sonst auch gegangen wäre …» Lautloses Schluchzen schüttelte den alten Guerrini.
Laura hielt ihn ganz fest, legte ihren Kopf an seine Wange. «Grazie, papà, danke, dass du ihn festgehalten hast. Meinst du, dass ich es schaffe zu übernehmen?»
«Wer denn sonst, Laura? Es ist ein Wunder, dass ich es geschafft habe, ihn festzuhalten. Wir stehen nicht so gut miteinander zurzeit.»
«Du kannst dich jetzt ausruhen, wenn du magst, aber du kannst auch dableiben.»
Fernando Guerrini schüttelte den Kopf. «Nein, ich geh jetzt. Du bist ja da.» Er versuchte aufzustehen, fiel aber wieder in den Stuhl zurück. Erst als Laura und die Krankenschwester ihn stützten, schaffte er es auf die Beine und ließ sich aus dem Zimmer führen. Draußen wartete Tommasini und versprach, sich um den alten Herrn zu kümmern.
Dann war Laura allein mit Angelo. Die wiederkehrenden Gedanken liefen noch einmal ab und versiegten endlich.
Behutsam rückte sie den Stuhl zurecht, auf dem eben noch Angelos Vater
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