Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
zurückzukehren. Von der Firma aus rief sie eine Bekannte an und schlug ihr ein gemeinsames Abendessen in einem Restaurant vor. Aber sie hatte bereits eine Verabredung. Würde eine andere Bekannte Zeit haben? Ihr fiel niemand ein, obwohl sie so viele Menschen kannte.
Bekannte.
Ich habe keine Freundin, dachte Donatella. Warum habe ich keine Freundin?
Sie wusste die Antwort. Sie wusste immer die Antwort. Auf alles. Sie hatte keine Freundin, weil sie niemandem vertrauen konnte. Es hatte mit Ricardo zu tun, mit seiner Stellung, mit dem glücklichen Familienleben, der wunderbaren Partei für ein wunderbares Padanien. Und es hatte mit ihrer Feigheit zu tun. Sie verabscheute Ricardos Reden, hasste Auftritte vor drapierten Fahnen hinter gewichtigen Schreibtischen. Nie hatte sie irgendwem diese Gefühle gezeigt.
Aber es hatte auch mit ihr selbst zu tun, auch das wusste Donatella genau. Es hatte mit ihrer Einsamkeit als Kind zu tun, damit, dass sie sich bei der geringsten Verletzung durch andere zurückzog. Sie gab den anderen keine Chance, weil ihr das zu riskant erschien. Nein, es war besser, keine der anderen Bekannten anzurufen.
Auf dem Weg nach Hause hielt sie vor einer kleinen Pizzeria, traute sich aber nicht hinein und fuhr nach ein paar Minuten weiter. Sie hatte Hunger. Es schneite schon wieder. Warum schneite es so früh im Jahr?
Vor dem großen Tor wartete sie ziemlich lange, ehe sie die Fernbedienung drückte und zusah, wie sich die Gitterflügel langsam öffneten. Nachdem sie hindurchgefahren war, hielt sie an und beobachtete im Rückspiegel, wie sich die Pforte unaufhaltsam wieder schloss. Dieser Anblick nahm ihr fast den Atem. Sie gab schnell Gas und fuhr in die geräumige Garage, deren automatisches Tor sich ebenfalls vor ihr geöffnet hatte und ebenso automatisch wieder schließen würde. All das konnte sie nicht mehr ertragen.
Als sie endlich die Villa betrat, wurde sie von Sara und den Hunden empfangen. Saras Miene war vorwurfsvoll, die Hunde jaulten begeistert. Als die Tiere sich endlich beruhigt hatten, sagte Sara: «Ich habe Ossobuco gemacht, weil ich nicht wusste, ob Dottor Cipriani zum Abendessen kommt. Aber es sieht nicht so aus, als käme er. Ich hoffe, dass wenigstens Sie Hunger haben, Signora … Die Post liegt auf Ihrem Schreibtisch.»
«Grazie, Sara. Es tut mir leid … das mit dem Essen. Ich weiß selbst im Augenblick nicht, wer kommt und wer nicht. Wir sind alle so beschäftigt … Ich hätte Sie anrufen sollen, aber die Arbeit in der Firma wächst mir allmählich über den Kopf. Ich werde so viel von Ihrem Ossobuco essen wie möglich. Ich weiß, wie gut es ist.»
Sara zuckte resigniert die Achseln.
«Ich hab schon gedeckt, Signora. Sie können sofort essen.»
«Vengo subito.»
Sara kehrte in die Küche zurück, und Donatella sah ihr nach, fragte sich, wie lange die junge Frau wohl noch bleiben würde, denn sie litt seit einiger Zeit ganz offensichtlich unter den unklaren Verhältnissen im Hause Cipriani. Sara kochte so gut, dass sie jederzeit in einem der besten Restaurants arbeiten konnte. Wahrscheinlich langweilte sie sich. Wahrscheinlich verachtete sie die Familie Cipriani.
Ich würde uns verachten, wenn ich Sara wäre, dachte Donatella, als sie in den ersten Stock hinaufstieg. Am Ende der Stufen drehte sie sich um und schaute auf die Eingangshalle und den riesigen Kronleuchter hinunter.
Ja, dachte sie, ich würde uns verachten.
Den Mantel warf sie über einen Stuhl in ihrem Arbeitszimmer, blätterte flüchtig die Post durch, die auf ihrem Schreibtisch lag, und verharrte bei einem unscheinbaren Umschlag ohne Absender, der mit einer österreichischen Briefmarke frankiert war.
Ihre Handflächen wurden feucht. Diese Art unauffälliger Umschläge kannte sie. Alle Erpresserbriefe, die sie bisher bekommen hatte, steckten in unauffälligen Umschlägen, die in Deutschland oder Frankreich aufgegeben worden waren. Österreich kam also neu hinzu.
Ihre Hände waren erstaunlich ruhig, als sie den Umschlag aufschlitzte. Der Brieföffner hatte die Form eines Dolchs, war eines der seltsamen Geschenke von Ricardo, die er manchmal von seinen Reisen mitbrachte. Sie waren wie Symbole ihrer Entfremdung. Langsam entfaltete sie den Brief und begann zu lesen.
Signora Cipriani,
nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt ist, möchten wir Sie an die Rechnung vom 29. Oktober erinnern. Das bedauerliche Ableben von Sir Benjamin Sutton reduziert die Höhe unserer Forderung keineswegs. Falls Sie die
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