Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
strich mit dem Daumen der rechten Hand über die Finger der linken, massierte mit kreisenden Bewegungen jedes einzelne Gelenk. Als Laura aufhörte zu sprechen, nickte sie und räusperte sich. «Kann ich ihn sehen?»
«Natürlich. Nicht heute Abend, aber morgen. Ich werde Sie begleiten. Es ist auch notwendig, dass Sie Ihren Mann identifizieren.»
Wieder nickte Suttons Frau. «Natürlich», flüsterte sie.
«Ihr Mann war ein Stück älter als Sie, nicht wahr?»
«Fünfzehn Jahre.»
«Haben Sie Kinder?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Ist Ihr Mann aus beruflichen Gründen in München gewesen?»
Sie nickte.
«Was genau hat er eigentlich gemacht? Ich meine beruflich.»
«Er hatte die Generalvertretung für irischen Whisky. Deshalb war er viel unterwegs.»
«Ach, damit hatte er wahrscheinlich viel Erfolg, oder? Ein Sir Benjamin hat es da sicher leicht.»
Die junge Frau hob den Kopf und warf Laura einen unsicheren Blick zu. «Ja … vielleicht … ich weiß es nicht.»
«Ging es Ihnen denn gut? Ich meine finanziell … hat Ihr Mann gut verdient?»
«Es hat gereicht. Warum wollen Sie das wissen?» Ihr Gesicht verschloss sich.
«Ich versuche mir ein Bild zu machen, Frau Sutton. Ihr Mann hatte zwei Pässe mit verschiedenen Namen bei sich. Einen auf Sir Benjamin Sutton, den anderen auf Henry Tennison. Wussten Sie davon?»
Sie senkte den Kopf, verschlang die Finger ineinander. «Nein», antwortete sie kaum hörbar. Nach einer Weile fügte sie leise hinzu: «Er ist also gar nicht einfach so gestorben …»
«Wie meinen Sie das?»
«Sie glauben, dass er ermordet wurde, nicht wahr?» Monica Sutton schien mit angehaltenem Atem zu sprechen.
«Es wäre möglich», erwiderte Laura.
Suttons Frau beugte sich vor und sah Laura ernst und forschend an. «Warum?»
«Ich weiß es nicht. Deshalb hoffe ich, dass Sie mir weiterhelfen können.»
«Ich weiß es auch nicht.» Monica Sutton schloss die Augen.
«Wäre es möglich, dass Sie mir ein bisschen über Ihren Mann erzählen? Was war er für ein Mensch?»
Die junge Frau atmete schwer, dann sprach sie heftig, mit noch immer geschlossenen Augen. «Benjamin war ein wunderbarer Mensch. Er war zärtlich, witzig, zuverlässig. Ich war sicher, dass wir es schaffen würden, den Landsitz seiner Familie in Wales zurückzubekommen. Wir haben beide wie verrückt daran gearbeitet. Er mit der Whiskyvertretung und ich in meinem Job bei einer Hamburger Handelsfirma.»
«Welchen Landsitz?»
«Ich hab ihn nie gesehen. Benjamin hat immer nur davon erzählt. Er muss auf einem Berghang über dem Meer liegen, mit Blick auf die Küste. Benjamin ist dort aufgewachsen.» Plötzlich begannen kleine Schluchzer ihren Körper zu erschüttern, als leide sie an Schluckauf. «Jetzt ist alles verloren», stieß sie hervor. «All die grünen Wiesen, die Schafe, die Pferde, das graue Haus über dem Meer …»
Ungläubig betrachtete Laura die junge Frau. Sie hatte das unwirkliche Gefühl, unversehens in eine jener Geschichten von Rosamunde Pilcher oder Inga Lindström geraten zu sein, die der alte Gottberg mit geradezu teuflischem Vergnügen im Fernsehen sah.
«Hat er Ihnen das erzählt? Das von den grünen Wiesen und so weiter …?»
«Immerzu, es war sein Leben – und meines. Sein Vater hat das Anwesen verspielt.» Plötzlich öffnete sie ihre Augen, beugte sich ein wenig vor und begann leise und doch sehr klar zu sprechen:
«Wo sind jene sternenhellen Wälder? Oh könnt ich
dort wandern und wohnen
unter Blumen, die in den himmlischen Zonen
blühen jahrelang.
Nein, öde sind jene Berge, die Ströme versiegt …»
Ja, dachte Laura. Sutton hatte offensichtlich stets das richtige Gedicht für den richtigen Augenblick.
«Wie lange waren Sie verheiratet?»
«Viereinhalb Jahre.» Jetzt weinte sie.
Laura füllte ein Glas mit Wasser und reichte der jungen Frau ein Papiertaschentuch.
«Sie haben sehr jung geheiratet, nicht wahr?»
«An meinem zwanzigsten Geburtstag. Ich begreife das alles nicht! Wer sollte denn ein Interesse daran haben, Benjamin umzubringen?»
«Ich weiß es nicht, Frau Sutton. Aber vielleicht sollten Sie in Ruhe darüber nachdenken und sich bis morgen ausruhen. Dann können wir uns weiter unterhalten.»
Laura rief Peter Baumann in der Kantine an und erteilte ihm den Auftrag, Suttons Frau in ein Hotel zu bringen und dafür zu sorgen, dass es ihr gutging. Sie war sicher, dass er diesen Auftrag zu ihrer Zufriedenheit ausführen würde.
Als Laura an diesem Abend
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