Nachtgefluester 01 - Der gefaehrliche Verehrer
entdeckte sie feinen Rauch aus einem Kamin. Tannen, stämmige Veteranen des Winters, ragten hoch. Ihre Nadeln raschelten in dem aufkommenden Wind. Das scharfe Plätschern eines eisigen Baches war zu hören. Cilla erhaschte Blicke auf das Wasser, ein bloßes Glitzern in dem verblassenden Sonnenschein.
Die Schatten waren lang. Die Luft war klar, und der späte Nachmittag warf ein kühles blaues Licht auf den Schnee. Kurz zuvor hatte sie ein Reh gesehen, das mit der Schnauze im Schnee nach dem Gras darunter grub. Jetzt war sie allein.
Sie hatte vergessen, wie es war, sich so friedlich zu fühlen. Sie fragte sich sogar, ob sie das je gewusst hatte. Sicher nicht mehr seit ihrer frühesten Kindheit, in der sie noch an Märchen und Happy Ends geglaubt hatte. Wenn eine Frau fast dreißig war, musste es zu spät sein, um wieder daran zu glauben.
Und dennoch bezweifelte sie, dass die Dinge je wieder so sein würden wie früher.
Boyd hatte sein Versprechen gehalten. Er hatte sie an Orte gebracht, von denen sie nie geträumt hatte. In einer köstlich langen Nacht hatte er ihr gezeigt, dass Liebe sowohl akzeptieren wie anbieten, nehmen genauso wie geben bedeutete. Sie hatte in Boyds Bett mehr kennengelernt als die Kraft der körperlichen Liebe. Sie hatte die Kraft der Intimität kennengelernt. Den Trost und die Schönheit der Intimität. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie tief und traumlos geschlafen.
Sie war nicht verlegen oder unangenehm berührt gewesen, als sie mit ihm an diesem Morgen erwachte. Sie war ganz ruhig gewesen. Wundervoll ruhig. Es war fast unmöglich zu glauben, dass es eine andere Welt außerhalb dieses Hauses gab. Eine Welt voller Schmerz und Gefahr und Angst.
Doch es gab sie. Und es war eine Welt, der Cilla sich nur zu bald wieder stellen musste. Sie konnte sich nicht hier verstecken – nicht vor einem Mann, der sie töten wollte, nicht vor ihren eigenen schlimmen Erinnerungen. Aber hatte sie kein Recht auf etwas mehr Zeit, in der sie so tun konnte, als würde nichts anderes eine Rolle spielen?
Es war nicht richtig.
Mit einem Seufzer hob sie ihr Gesicht den letzten Sonnenstrahlen entgegen. Ganz gleich, was sie fühlte – oder vielleicht, weil sie jetzt endlich so tief empfand –, sie musste ehrlich mit sich selbst sein, und auch ehrlich mit Boyd. Das, was so wunderbar zwischen ihnen begonnen hatte, durfte sie nicht weitergehen lassen. Ich kann es nicht, dachte sie und presste fest ihre Augen zu. Besser, ihr Herz schmerzte jetzt, als dass es später zermalmt wurde.
Er ist ein guter Mann, dachte sie. Ein ehrlicher Mann, ein fürsorglicher. Er ist geduldig, intelligent und hingebungsvoll. Und ein Cop.
Sie schauderte und hielt sich straffer.
Er hatte eine Narbe gleich unterhalb seiner rechten Schulter. Vorne und hinten. Von einer Kugel – Berufsrisiko der Polizei. Sie hatte nicht gefragt, wollte auch nicht fragen, wie er dazu gekommen war, wann es passiert war oder wie nahe er dem Tod gekommen war.
Doch sie konnte sich auch nicht vor der Tatsache verkriechen, dass ihre eigenen Narben genauso real waren wie seine.
Sie konnte weder ihm noch sich selbst vortäuschen, dass sie eine Zukunft hatten. Sie hätte nie zulassen dürfen, dass es überhaupt so weit kam. Aber das war nun geschehen. Sie waren ein Liebespaar. Und obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war, würde sie doch immer für die Zeit mit ihm dankbar sein.
Das Vernünftigste, was man machen konnte, wäre, die Beschränkungen ihrer Beziehung zu diskutieren. Keine Bindungen, keine Verpflichtungen. Höchstwahrscheinlich würde er dieses praktische Denken schätzen. Wenn ihre Gefühle zu schnell und zu stark gewachsen waren, musste sie ihnen eben Zügel anlegen.
Sie musste sich ganz einfach davon überzeugen, dass sie nicht verliebt war.
Boyd fand sie vor, wie sie sich über das Geländer neigte, als wolle sie über die Tannen und die schneebedeckten Berge wegfliegen.
Ihre Nervosität kehrt zurück, stellte er frustriert fest. Er sah sofort, dass ihr Körper wieder die Haltung einer Fliehenden angenommen hatte. Ob sie wusste, wie entspannt sie gewesen war, als sie sich an diesem Morgen an ihn geschmiegt und sich langsam umgedreht hatte, damit sie einander langsam und träge lieben konnten?
Als er jetzt ihr Haar berührte, zuckte sie zusammen, ehe sie sich gegen seine Hand lehnte.
»Mir gefällt dein Haus, Schlaumeier.«
»Freut mich.« Er hatte vor, mit ihr hierher zurückzukommen – Jahr um Jahr.
Ihre Finger tanzten über das
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