Nachtgefluester 01 - Der gefaehrliche Verehrer
Jahren war der Schmerz noch genauso schrecklich. »Du hast also ein paar Tasten an deinem Computer gedrückt und herausgefunden, dass meine Mutter getötet wurde. In Ausübung ihrer Pflicht. So nennt man das. Pflichtausübung«, wiederholte sie mit dumpfer Stimme. »Als wäre es Teil einer Jobbeschreibung.«
»Das ist es«, sagte er ruhig.
Angst flackerte in ihren Augen, als sie ihn ansah und rasch wieder wegblickte. Ja. Richtig. Es gehörte eben zu ihrem Job, dass sie an diesem Tag erschossen wurde. »Nur wirklich ein Pech mit meinem Vater. Er war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Der übliche unschuldige Unbeteiligte.«
»Cilla, nichts ist schwarz oder weiß. Und nichts ist so einfach.«
»Einfach?« Sie lachte auf und schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Nein, das richtige Wort ist ironisch. Cop und öffentlicher Pflichtverteidiger, die zufällig miteinander verheiratet sind, streiten über einen Fall. Sie waren nie einer Meinung. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie auch nur ein einziges Mal irgendeine Sache aus demselben Blickwinkel gesehen haben. Als das passierte, sprachen sie von Trennung – wieder einmal. Nur auf Probe, sagten sie.« Mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln betrachtete sie ihr Glas. »Ich habe keinen Wein mehr.«
Wortlos schenkte Boyd nach.
»Du hast also den offiziellen Bericht gelesen.« Sie ließ den Wein im Glas kreisen, trank. »Sie haben diesen kleinen Dreckskerl zum Verhör gebracht. Dreifacher Verlierer – bewaffneter Raubüberfall, tätlicher Angriff, Drogen. Er wollte seinen Anwalt dabeihaben, während ihn ein Cop verhörte. Er redete davon, dass er einen Handel machen wollte. Er wusste, dass es keinen Handel geben würde. Sie hatten ihn eiskalt festgenagelt, und diesmal musste es für ihn ernst werden. Er gab zwei Menschen dafür die Schuld: seinem Anwalt und dem Cop, der ihn geschnappt hatte.«
Es war schmerzlich, noch immer so schmerzlich, sich zu erinnern und sich ein Ereignis auszumalen, das sie selbst nicht gesehen und das ihr Leben so drastisch verändert hatte.
»Sie haben den Kerl geschnappt, der ihm die Waffe hereingeschmuggelt hat«, sagte sie leise. »Er sitzt noch immer.« Sie besänftigte ihre Kehle mit einem Schluck. »Da saßen sie einander also am Tisch gegenüber – gerade so, als wären sie in unserer Küche – und stritten über Recht und Gesetz. Der Hurensohn zog diese eingeschmuggelte 22er und erschoss beide.« Sie starrte in ihr Glas. »Eine Menge Leute haben wegen dieses Vorfalls ihren Job verloren. Meine Eltern haben ihr Leben verloren.«
»Ich werde dir nicht erzählen, dass Cops nie durch einen Fehler oder unnötig oder sogar sinnlos sterben.«
Als sie ihn ansah, sprach ihr Blick Bände. »Gut. Und ich will nicht diesen Mist hören, wie stolz wir sein sollten auf unsere tüchtigen Jungs in Blau. Verdammt, sie war meine Mutter.«
Er hatte die Berichte nicht nur einfach gelesen, sondern er hatte sich hineingekniet. Die Zeitungen hatten es ein Unglück und eine Tragödie genannt. Die Untersuchung hatte länger als sechs Monate gedauert, und hinterher waren acht hohe Beamte zurückgetreten oder ersetzt worden.
Doch abgesehen von allen Tatsachen erinnerte er sich an ein Aktenfoto. Cilla, das Gesicht starr vor Gram, vor den beiden Gräbern, Deborahs Hand umklammernd.
»Es war schrecklich, sie so zu verlieren«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ja, aber in fast jeder Hinsicht hatte ich meine Mutter schon an dem Tag verloren, an dem sie zur Polizei ging.«
»Sie hatte eine eindrucksvolle Akte«, erwiderte Boyd vorsichtig. »Damals war es für eine Frau nicht leicht. Und es ist immer schwer für die Familie eines Cops.«
»Woher weißt du das denn?« fragte sie. »Du bist nicht derjenige, der daheim sitzt und schwitzt. Von dem Tag an, an dem ich alt genug war, um zu begreifen, wartete ich darauf, dass ihr Captain zu unserer Tür kommt und uns sagt, dass sie tot ist.«
»Cilla, du kannst nicht dein Leben damit verbringen, dass du auf das Schlimmste wartest.«
»Ich habe mein Leben damit verbracht, auf meine Mutter zu warten. Ihr Job kam immer an erster Stelle – er kam vor Dad, vor mir, vor Deb. Sie war nie da, wenn ich sie brauchte.« Sie riss ihre Hand zurück, bevor er sie ergreifen konnte. »Ich legte keinen Wert darauf, dass sie Plätzchen backt oder meine Socken zusammenlegt. Ich wollte sie nur bei mir haben, wenn ich sie brauche. Aber die Familie war ihr nie so wichtig wie die Öffentlichkeit, der zu dienen und die zu
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