Nachtgesang
wenn er zu einer Unterredung mit dem Mann berufen wurde. Aber gewöhnlich blieb Aristoteles Milan tagsüber völlig außer Sichtweite, unten in den unterirdischen Gefilden der Stätte. Santeson wusste, dass sein Arbeitgeber Privatgemächer dort hatte, die er bis jetzt nie hatte betreten dürfen. Nach seinem Wissen hatten lediglich Milans Gorillas je so weit vordringen dürfen ...
... nun, zumindest bis heute ...
KAPITEL EINUNDDREISSIG
... VOR DEM STURM
Es war fast dunkel im Kasino, als Santeson es wieder betrat. Ein Stromausfall hatte die meisten Lichter ausgelöscht, und es war niemand mehr da, um den Schaden zu beseitigen. Aber obwohl es stockfinster war, wusste er, wo er Milans Aufpasser finden würde.
Um die zentrale Säule des Pleasure Domes bildeten sechs Aufzüge ein sechseckiges Gebilde aus Glas und Edelstahl. Vier davon wurden für die oberen Ebenen des Kasinos benutzt, aber hielten nicht bei Milans Beobachtungskuppel. Der fünfte wurde nur vom Kasino-Personal benutzt und fuhr bis in den Keller des fast sprichwörtlich bombensicheren, Fort-Knox-artigen Gewölbes, in dem sich die Buchhaltung befand. Und der sechste: Der wurde nur von Milans engsten Angestellten benutzt, seinen Bodyguards und allen anderen, die er sehen wollte, entweder in der Blase oder in bestimmten unbekannten Regionen tief unter der Kuppel.
Aber Geschäftspartner? Besucher?
Puh! Verdammt wenige!, dachte Santeson, als er sich dem zentralen Bereich näherte, wo, wie könnte es anders sein, Milans Türsteher warteten, um ihn abzufangen. Sie saßen rechts und links von einer Aufzugstür, auf der PRIVAT stand (die Tür zu Milans Aufzug, selbstverständlich), in rosa-gemaserten Ledersesseln neben schmalen, urnenförmigen Aschenbechern. Aber als Santeson sich den unbeleuchteten Reihen düsterer, stiller Nischen näherte, kamen die Aufpasser ruhig, aber träge auf die Beine und standen mit über der Brust verschränkten Armen Seite an Seite, wie ein Eunuchen-Duo.
Ihre Gesichter blieben ausdruckslos, aber die Haltung, die sie eingenommen hatten, sagte alles: Sie versperrten den Weg zu dem Aufzug.
Santeson schüttelte den Kopf und fragte sich: Was ist bloß mit den beiden los? Abgesehen von Milan selbst waren sie die Einzigen, die Schlüssel zu der unterirdischen Stätte hatten, von der Santeson annahm, dass sie luxuriöse Appartements beherbergte. Sein Schlüssel brachte ihn nur nach oben, nicht nach unten. Aber es hatte keinen Sinn, Zeit mit Streiten zu verbringen; diese Zombies reagierten immer gleich, egal wer sich den Türen näherte.
»Ich muss Mr. Milan sehen«, erklärte er ihnen, »und zwar jetzt sofort. Also hört auf mich zu verarschen, denn die Angelegenheit ist zu wichtig.« Sie sahen erst ihn, dann einander an, dann wieder Santeson. Und er sah sie an.
Sie könnten Zwillinge sein, dachte er, aber dann nahm er seine Meinung zurück. Nein, es war nicht so, dass sie wie Brüder aussahen, sondern dass ihre Blicke ähnlich waren. So wie sie da standen – große, muskulöse Männer Mitte, Anfang 20, mit schicken Anzügen, mit einer blassen Hautfarbe, die in der Abenddämmerung fast schon grau aussah –, konnten sie fast Schneiderpuppen sein, reglos und doch irgendwie bedrohlich. Nur ihre Augen bewegten sich, und ihre Augen waren ... seltsam!
Santeson war sich sicher, dass er es nie zuvor wahrgenommen hatte, aber jetzt sah er eine Art gelbliches, irgendwie wildes Leuchten in diesen Augen. Es musste am Licht liegen oder daran, dass es fehlte, und dieser Gedanke trieb ihn weiter.
»Hört mal«, sagte er, »jeden Moment könnte hier die Hölle losbrechen und Mr. Milan muss darüber informiert werden. Nun, ich möchte ihn nicht alleine aufsuchen ... hey, Jungs, wenn ihr euch so sehr um seine Sicherheit sorgt, könnt ihr mich doch eskortieren! Genau genommen müsst ihr sogar mit mir mitgehen, denn ich weiß nicht, wo er ist oder wie ich dorthingelangen kann. Aber ihr schon. Und glaubt mir, wenn ihr mich jetzt nicht sofort zu ihm bringt, könnte es sein, dass ihr morgen keine Arbeit mehr habt ...«
Dann überspannte er den Bogen ein wenig, als sie keine Miene verzogen. »Äh, hallo?« , sagte er: »Kapiert ihr, was ich sage oder soll ich euch ein paar Bildchen dazu malen? Vielleicht muss man erst irgendeinen Knopf drücken, um euch einzuschalten, oder ich kenne den Geheimcode nicht, der uns ein gegenseitiges Verstehen auf Kindergartensprache ermöglicht!«
Tatsächlich war er nicht »verstanden« worden, nicht von den beiden. Der
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