Nachtgesang
großartigen Erinnerungen hinterlassen, deshalb ist es eigentlich ziemlich egal.«
Also fuhr Trask fort. »Ihre Mutter hatte Freunde in der sogenannten ›High Society‹. Schließlich heiratete sie einen französischen Geschäftsmann, mit dem sie in Saint-Tropez lebte, bis ... nun, bis sie vor fünf Jahren starb.«
Jake zuckte wieder die Achseln, wenn auch nicht so gleichgültig, wie er den Anschein erwecken wollte. »Es ist ganz nett in Nizza«, sagte er.
»So kamen Sie also als Baby zu Ihren britischen Großeltern«, fuhr Trask abermals fort, »die vielleicht etwas zu weit jenseits der 50 waren, um Sie großzuziehen. Und Ihr Vater, Joe Cutter, starb 1995 bei einem Luftmanöver in Deutschland, weil er ein Flugzeug flog, dessen ›Haltbarkeitsdatum‹ längst überschritten war. Es wurde von seinen Piloten ›liebevoll‹ ›Fliegender Sarg‹ genannt. Joe war fast am Ende seiner Dienstzeit, als es passierte, und Sie waren erst 15 Jahre alt ...
Sie waren ein schwieriges Kind, Jake. Zu viel Geld, zu viel Aufmerksamkeit von Ihren alternden und gleichzeitig hingebungsvollen Großeltern, zu viele Gelegenheiten ›seltsame‹ Zigaretten zu rauchen und wahrscheinlich auch andere ›verschreibungspflichtige‹ Medikamente? Viel zu viel Freizeit, nichts, worauf man sich richtig freuen konnte, jedenfalls nicht Ihrer Meinung nach. Also schmissen Sie die Schule, verbrachten etwas Zeit bei Ihrer Mutter in Frankreich; aber sie hatte genug eigene schlechte Gewohnheiten und war nicht wirklich ein guter Einfluss. Und abgesehen davon kamen Sie mit ihr nicht aus. Sie überlegten sich, zur Armee zu gehen und Ihr Großvater war begeistert. Er sagte: ›Großartig! Die Guards Brigade! Die alte Schule und all das, nicht wahr? Nicht wahr?‹ Also wurden Sie Fallschirmjäger, weil Sie aus Flugzeugen springen wollten! Und in nur zwei Jahren wurden Sie Teil des Special Air Service. Tja, so viel zu elterlichem Einfluss.
Als man Sie aus dem SAS schmiss, besagte Ihr Abschlussbericht, Sie seien unfähig, Befehle anzunehmen. Außerdem, und das ist verdammt seltsam für den SAS, stand in dem Bericht, Sie seien ein Einzelgänger! Und das von einer Truppe, die stolz auf ihre Eigenständigkeit oder totale Un abhängigkeit ist! Da waren Sie also, vor fünf Jahren: Sie führten wieder ein schönes Leben, ein Luxusleben, in Südfrankreich, wo Sie von dem Geld Ihrer Mutter lebten.«
Jake zuckte abermals die Achseln, aber er sah mehr als nur ein bisschen unbehaglich aus. »Ihr zweiter Mann hinterließ ihr ein ordentliches Sümmchen«, sagte er. »Und der dritte war sogar noch reicher. Warum also sollte ich mich abrackern und arbeiten?«
»Ich kritisiere Sie nicht, Jake«, erläuterte Trask. »Ich versuche nur zu erklären, was Sie damals waren, um einen Vergleich zu ziehen zu dem, was die Gesellschaft später in Ihnen sah, nämlich einen Kriminellen. Mehr noch, einen brutalen Mörder.«
»Jetzt warten Sie mal!«, begann Jake. »Sagten Sie nicht vorhin, dass Sie ...«
Trask fiel ihm ins Wort: »Zumindest in den Augen der Gesellschaft. Aber die Gesellschaft ist bekannt dafür, dass sie den einen oder anderen Fehler macht. Und das E-Dezernat ... Nun, wir werden manchmal gerufen, um ein Chaos zu beseitigen; aber oftmals stürzen wir uns erst richtig hinein. Nun gut, lassen Sie uns einen kleinen Exkurs machen ...« Nach einer kurzen Pause sprach er weiter:
»Seit den letzten 15 oder 20 Jahren oder vielleicht sogar länger – seit dem Untergang des Kommunismus – ist Europa ein heilloses Durcheinander. Rezessionen, Revolutionen, ein Staatsstreich nach dem anderen; nukleare Gefahrenstellen, wo russische Kraftwerke und Waffenlager vor sich hin rotten und sich langsam in Atommüll verwandeln; kleine und auch nicht so kleine Kriege, links, rechts und in der Mitte, wenn Nationen sich rächen, sich auf Rassen-Vendetten einlassen, die schon längst hätten beigelegt sein sollen und wahrscheinlich vor hundert Jahren beigelegt worden wären, wenn der sowjetische Expansionismus und Kommunismus sie nicht unterbrochen hätten. Machtkämpfe im politischen System, die immer noch ausgefochten werden, in Rom und Moskau und sonst wo; ethnische Säuberung in und um die slawischen und baltischen Länder und regelmäßig Revolutionen in der Türkei, in Bulgarien und Rumänien. Die Regierung in Italien, Frankreich und Deutschland kommt und geht so schnell wie eine Uhr tickt und hält sich auch ungefähr genauso lang, nie lange genug, um für irgendetwas gut zu sein. Und
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