Nachtgesang
ich schon gesagt habe, Gott sei Dank ist das Vereinigte Königreich eine Insel. Wir haben immer noch unsere Grenzkontrollen, unsere Einwanderungsgesetze und dieses eine Mal haben wir alles richtig gemacht. Trotzdem ist der illegale Drogenhandel schwer zu unterbinden und wir bekommen mehr als genug davon ab, aber wir leiden lange nicht so sehr darunter wie der Rest der Welt.
Und natürlich haben sich die Überlebenskünstler der Polizeirazzien und ›alten‹ Mafia-Bandenkriege auf dem italienischen Festland, Sizilien und in den Staaten mit den noch mächtigeren russischen Clans zusammengeschlossen, was bedeutet, dass sie, wie auch die größten Terrororganisationen der Welt, nun ziemlich gut integriert sind.
Marseille hat schon immer ein großes Drogenproblem gehabt. Die Riviera, mit ihrer Schickeria und ihren draufgängerischen Mitgliedern der feinen Gesellschaft, ist seit langer, langer Zeit der Himmel der Drogendealer schlechthin. Natascha Slepak war ständig in Bewegung – sie nutzte mehrere Strecken –, aber hauptsächlich flog sie von Moskau nach Budapest und fuhr dann mit dem Auto nach Italien oder Frankreich. Oder sie fuhr eine andere Strecke nach Frankreich, durch Genua, und nahm dann eine Jacht zur Französischen Riviera. Die Familie hat Kontakte und sie hat Boote in den meisten italienischen Hafenstädten.
Jake begegnete Natascha in Marseille. Laut der Aussage, die er später – viel später – gegenüber der italienischen Polizei machte, wollte sie aus dem Drogengeschäft aussteigen. Sie wurde von einem der italienischen Mafiabosse sexuell belästigt, einem gewissen Luigi Castellano, einem jungen Sizilianer, der die französische Seite der Geschäfte von einer herrschaftlichen Villa in einem Vorort von Marseille aus leitete. Castellano war Nataschas Hauptkontakt in Frankreich, aber er war auch der Mann, den sie am meisten fürchtete und verabscheute ...«
Als Trask innehielt, platzte Jake, der sichtlich nervös geworden war, heraus: »Wenn es schon erzählt werden muss, dann lassen Sie mich jetzt übernehmen.« Trask schürzte die Lippen und nickte dann.
»Wir begegneten uns in einer Bar«, begann Jake. »Was Sie gerade gehört haben, stimmt: Natascha wollte aussteigen. Aber sie konnte sich nirgendwo verstecken, zumindest nicht auf dem Kontinent. Keine Grenzkontrollen; die Familie würde sie finden, wohin auch immer sie ging. Vielleicht kam sie deshalb zu mir – weil ich die britische Staatsangehörigkeit hatte –, aber das ist nur eine Vermutung. Mir ist es lieber zu denken ... nun, dass sie andere Gründe hatte. Wie dem auch sei, wir kamen hervorragend miteinander aus. Die ersten paar Tage lud ich sie immer schick zum Essen ein; sie war ein sehr guter Grund für mich nüchtern, clean zu bleiben. Wir übernachteten in unterschiedlichen Hotels ... so dachte ich zumindest. In Wirklichkeit blieb sie in Castellanos Villa und musste sich immer wieder aufs Neue dieses Schwein vom Leib halten! Und sie wollte nicht in die Nähe meines Hotels kommen. Kurzum, sie war sehr vorsichtig. Und mir war klar, dass ihr irgendetwas Sorgen bereitete.
Irgendwann weihte sie mich in alles ein. Und die ganze Zeit – während unserer ganzen ›Romanze‹, wenn Sie es so nennen wollen – war mir klar, dass man sie beobachtete; selbst damals, als ich sie zum ersten Mal sah, war da dieser große Kerl, der sie aus dem Schatten heraus überwachte. Ich sagte ihr nichts davon, aber ich wusste, dass ich mich nicht irrte. Schließlich offenbarte sie mir, warum wir nicht zusammen sein konnten. Um mich zu schützen: Sie wollte mich nicht mit hineinziehen.
Dann kam der Zeitpunkt, als sie mir sagte, sie müsse ihr Leben weiterleben. Ich wusste, dass ich sie liebte, obwohl wir uns noch nicht einmal eine Woche kannten. Vielleicht brauchte ich jemanden, den ich lieben konnte. Meine Mutter war vor Kurzem erst gestorben und ich glaube, dass ich ihr, wenn ich mich weiter so gehen gelassen hätte, in Kürze nachgefolgt wäre. Und dann war da Natascha, die eine Leere füllte, von der ich nicht einmal wusste, dass es sie gab, und ich konnte einfach keinen Grund sehen, der gegen uns beide zusammen sprach. Aber sie konnte es: die Familie. Also fragte ich sie, warum wir nicht zur hiesigen Polizei, der Sûreté, gehen konnten, um ihr Nataschas Geschichte zu erzählen. Sie meinte, das ginge nicht, da die Beamten von Castellano gekauft seien. Also machte ich ihr einen Vorschlag: Das nächste Mal, wenn sie in Marseille sein würde, sollte sie
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