Nachtglut: Roman (German Edition)
eilig hatte, nach Hause zu kommen und über die Worte nachzudenken, die er, auch für sich selbst ganz unerwartet, zu Lucy gesagt hatte. Die ersten paar Minuten auf der Straße war ihm der Sturm nur lästig. Aber dann meldete sich die jahrelange Gewohnheit zurück, und er begann zu denken wie ein verantwortungsvoller Staatsdiener im Angesicht einer bevorstehenden Katastrophe, die die Sicherheit der Bürger bedrohte. Es bestand die Gefahr plötzlicher Überschwemmungen. Unverzüglich müßten Vorkehrungen getroffen werden, um an tiefliegenden Brücken über den Fluß Sperren zu errichten – bevor irgendein Narr versuchte, das reißende Wasser zu durchqueren und mitsamt seinem Wagen davongespült wurde. Die Feuerwehr müßte in Bereitschaft
versetzt werden, um augenblicklich Notalarm auszulösen, wenn eine Trombe gesichtet wurde. Jeder Deputy der Behörde sollte zum Dienst herangezogen werden.
Plötzlich wurde er sich bewußt, daß er auf dem Weg zum Sheriff’s Office war. Aber nein, dort brauchten sie ihn nicht mehr. Er würde diesen Orkan und auch alle zukünftigen daheim aussitzen.
Als er den Eingang aufsperrte, vernahm er erstes fernes Donnergrollen. Im Haus war es beinahe stockfinster. Nachdem er unten überall Licht gemacht hatte, ging er hinten auf die Terrasse und trug die Gartenmöbel und Coras Hibiskuspflanzen unter das Vordach.
Er dachte daran, seine Frau anzurufen und zu fragen, ob das Wetter in West-Texas auch so miserabel sei; ihr vielleicht ein schlechtes Gewissen einzuimpfen, daß sie an diesem düsteren, stürmischen Abend nicht an seiner Seite ausharrte.
Aber er wollte sich nicht neuer Zurückweisung aussetzen. Noch nicht. Früher oder später würde er betteln, wenn sonst nichts half – Versprechen abgeben, die er wahrscheinlich nicht halten konnte, nichts unversucht lassen, um sie dazu zu bewegen, heimzukehren. Aber heute abend war er noch nicht soweit.
Bei seinem letzten Anruf hatte sie all seine zaghaften Versuche, das Gespräch auf die Möglichkeit einer Versöhnung zu lenken, zurückgewiesen. Schlimmer noch, sie hatte überhaupt nicht darauf reagiert, sondern nur kalt das Thema gewechselt, sobald er etwas Persönliches bemerkte.
Vielleicht hatte er von Anfang an nicht genug Distanz zu der Sache gehabt. Die Entdeckung des toten Mädchens in seinem Zuständigkeitsbereich hatte ihn zu einer schnellen Schlußfolgerung verleitet, die allerdings auch logisch gewesen war. Unter Umständen hatte er die Brüder Herbold als die Schuldigen sehen wollen, weil die kommende Tragödie bereits in der Luft lag. Weil er gewußt hatte, daß es nur eine Frage der Zeit war, wann jemand, der mit ihnen zu tun bekam,
tot enden würde. Ezzy war damals lediglich ein paar Kapitel vorausgeeilt – mehr nicht.
Sie hatten ein ziemlich gutes Alibi vorweisen können. Die beiden hatten behauptet, zur fraglichen Zeit auf der Fahrt nach Arkadelphia gewesen zu sein, und das konnte stimmen. Es gab Videoaufnahmen, die bestätigten, daß sie dort am frühen Morgen ein Lebensmittelgeschäft überfallen hatten. Aber Ezzy, der von ihrer Schuld überzeugt gewesen war, hatte sich die Fakten so zurechtgebogen, daß sie in sein Konzept paßten. Nicht perfekt, aber doch recht gut. Alles ein bißchen eng, aber es hatte hingehauen.
Doch Carls Unschuldsbeteuerungen erhoben sich immer wieder in ihm. Weshalb leugnete seinerzeit dieser Kerl, der sich, ohne mit der Wimper zu zucken, zu all seinen anderen Missetaten bekannt hatte, so heftig, daß er an jenem Abend nach dem Wagon Wheel mit Patsy weitergezogen war? Ezzy hatte sich immer gesagt, er sei einfach bockig. Aber vielleicht stimmte das nicht. Womöglich hatte Carl Herbold ausnahmsweise einmal die Wahrheit gesprochen.
Aber wenn nicht Carl und Cecil die Kneipe mit dem Mädchen zusammen verlassen hatten zwecks Fortsetzung, mußte es jemand anderes gewesen sein. Jemand anderes war mit ihr zum Fluß gefahren, hatte seine Spielchen mit ihr getrieben und sie dann tot im Gras liegenlassen. Einer wußte die Antworten auf die Fragen, die Ezzy nun seit fast einem Vierteljahrhundert quälten.
Wenn das zutraf, war er die ganze Zeit schiefgewickelt gewesen und hatte den wahren Schuldigen unbehelligt gelassen.
40
I st doch eigentlich viel besser so, was, Myron?«
»Klar, Carl.«
»Wir haben nur getan, was nötig war.«
»Genau.«
Myron aß Wiener Würstchen aus der Dose. Der Saft rann ihm schneller von den Fingern, als er ihn auflecken konnte.
»Hab ich dir mal von unserem Stiefvater
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