Nachtglut: Roman (German Edition)
zu sagen einfiel, als er dem jungen, sichtlich erschütterten Deputy gegenüberstand, der als erster zur Stelle gewesen war, nachdem ein Fischer die grausige Entdeckung gemeldet hatte.
»Nein, Sir, Ezzy!«
»Auch nicht der Mann, der sie gefunden hat?«
»Was glauben Sie denn? Der war zu Tode erschrocken. Er hat nicht mal angelegt. Er ist mit seinem Boot vorbeigekommen und als er sie da liegen sah, jagte er mit Volldampf nach Mundy’s Point zurück, um uns anzurufen. Und ich bin ja nicht blöd – ich weiß, daß man am Tatort eines Verbrechens nichts berühren darf… hab das Gebiet gleich abgesperrt.«
Es kam äußerst selten vor, daß sie einen Tatort absperren mußten, um zu verhindern, daß Spuren verlorengingen. Ihre Arbeit bestand größtenteils aus routinemäßigen Streifenfahrten und permanenten Aktionen zur Wahrung von Gesetz und Ordnung. Sie wurden zu Kneipenprügeleien oder gewalttätigen Familienstreitigkeiten geholt, oder um einen randalierenden Betrunkenen über Nacht in eine Zelle zu sperren.
Es kam selten zu Ausbrüchen von Gewalt, bei denen es Tote gab; wenn doch, waren die Hintergründe immer klar. Bewaffneter Raubüberfall. Gewaltanwendung mit einer tödlichen Waffe. Eheliche Zwistigkeiten. Der Täter hatte im allgemeinen ein Motiv, das, wenn auch nicht entschuldbar oder rechtens, doch wenigstens klar zu erkennen war.
Sinnlose Verbrechen, die einzig aus Böswilligkeit begangen wurden, geschahen woanders. In den großen Städten. In den städtischen Ghettos. In Blewer County, Texas, gab es so etwas nicht. Weder der Deputy noch Ezzy, der zu der Zeit bereits ein erfahrener Polizeibeamter war, hatte je etwas so Erschreckendes gesehen.
Sie lag bäuchlings im niedergetrampelten Gras. Ihr Gesicht war in den Boden gedrückt, der Kopf nicht einmal zur Seite gedreht. Ein Arm lag abgewinkelt unter ihr, der andere halb ausgestreckt an ihrer Seite, die Handfläche aufwärts gedreht, die Finger leicht gekrümmt. Ihre Beine waren gespreizt. Sie trug Sandalen. Sonst nichts. Es war Sommer, sie
war braun gebrannt bis auf das helle Gesäß und einen Streifen Weiß, der sich quer über ihren Rücken zog.
Es schien Ezzy unanständig, so zu ihrem nackten Körper hinunterzustarren. Sie taten es in ihrer Eigenschaft als Polizeibeamte, aber mit Blicken waren sie so schuldig wie ihr Mörder – Ezzy hatte augenblicklich vermutet, daß sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war –, der sie aller Würde beraubt hatte.
»Schlecht für uns, die ganzen Regenfälle gestern nacht!« bemerkte der Deputy mit einem Blick zu der Wasserlache, die sich in der Mulde unter dem Mädchen gesammelt hatte. »Der Regen hat wahrscheinlich einen Haufen Spuren weggespült.«
»Wir müssen eben mit dem arbeiten, was wir haben.«
»Ja, Sir.« Der Deputy tupfte sich die feuchte Oberlippe mit einem gefalteten Taschentuch. »Was glauben Sie – ist sie ermordet worden?«
»Nach einem natürlichen Tod sieht’s, weiß der Himmel, nicht aus!«
Das Kreischen eines Blauhähers über den Bäumen holte Ezzy in die Gegenwart zurück. Er stopfte den leeren Chipsbeutel in die Papiertüte und ließ auf das salzige Zeug den süßen Schokoriegel folgen. An der klebrigen rosaroten Füllung lutschend, stand er auf und ging zu der Stelle, wo Patsy McCorkle gelegen hatte.
»Gütiger Himmel! Was haben wir denn hier, Ezzy?«
Verblüfft sah Ezzy sich um. Beinahe erwartete er, den alten Harvey Stroud aus dem Wald treten zu sehen. Der Coroner lag seit fünfzehn Jahren unter der Erde; aber Ezzy hörte seine Stimme in diesem Moment so deutlich wie damals, als Stroud neben der toten Patsy McCorkle niedergekniet war und seine Brille aufgesetzt hatte, um besser sehen zu können.
Ezzy fragte: »Haben Sie Ihren Fotoapparat dabei?«
»Unser Freund vom Banner ist schon unterwegs. Er muß gleich hier sein.«
Ezzy hatte gehofft, die Sache unter Verschluß halten zu können, bis er Gelegenheit gehabt hatte, Patsys engsten Freunden erste Fragen zu stellen. Außerdem hatte er den McCorkles die Zeit gönnen wollen, sich vom ersten Schock zu erholen und gegen die Flut von Spekulationen zu wappnen, die der Tod ihrer Tochter auslösen würde. Doch da Stroud den Zeitungsfotografen zugezogen hatte, würde die schreckliche Neuigkeit bis spätestens Mittag in aller Munde sein.
»Können Sie mir schon was sagen, Harvey?«
»Drängen sie mich nicht. Ich bin doch eben erst eingetroffen.« Ohne den Leichnam zu berühren, musterte er ihn prüfend aus verschiedenen
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