Nachtglut: Roman (German Edition)
sondern um auf allen vieren jeden Zentimeter Boden abzusuchen nach einer Spur, nach einem noch so geringen Hinweis darauf, was Patricia McCorkle damals zugestoßen war.
Dieses im Gang der Welt so unbedeutende Ereignis hatte sich zu Sheriff Ezra Hardges Lebensmittelpunkt entwickelt.
Und darum haßte Cora den Fall, verwünschte ihn, weil er ihren Mann so stark beschäftigte, daß ihm kaum Zeit blieb, ein normales Leben zu führen. Zunächst hatte er sämtliche rechtlichen Möglichkeiten verfolgt, um diejenigen, die er an dem Tod des Mädchens schuldig glaubte, ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Als sich herausstellte, daß er dieses Ziel nicht erreichen würde, war er in einer Depression versunken, die beinahe ihre Ehe zerstört hatte.
Cora drohte, ihn zu verlassen und die Kinder mitzunehmen,
wenn er sich nicht endlich zusammenreiße. Er riß sich zusammen. Oder tat jedenfalls so. Die tägliche Arbeit, die er in seinem Amt zu leisten hatte, hielt ihn die meiste Zeit auf Trab. Aber wenn er tatsächlich mal frei war, um abzuschalten und das Familienleben zu genießen, grübelte er weiter über das nie aufgedeckte Ende von Patsy nach.
Durch die ständige innere Beschäftigung mit dem Fall McCorkle hatte er seine Pflichten als Vater vernachlässigt. Cora hatte Sohn und Tochter praktisch allein großgezogen, ohne Rat und Hilfe von ihm. Er erinnerte sich kaum ihrer Kindheit, allenfalls der schwierigen Zeiten. Am schlimmsten war es gewesen, als ihr Sohn anfing, mit Drogen zu experimentieren. Zum Glück hatten sie es rechtzeitig genug bemerkt, um zu verhindern, daß der Drogenmißbrauch zur Sucht wurde, die so viele Leben zerrüttete. Heute war er verheiratet, mit zwei Töchtern, Direktor einer High-School, eine Stütze der Gesellschaft.
Ihre Tochter, zwei Jahre jünger als der Bruder, hatte Blewer nach dem High-School-Abschluß verlassen. Sie ging aufs College, um einen Mann zu finden, den sie als ihrer würdig betrachtete, und das gelang ihr auch. Bald heiratete sie einen Börsenmakler aus Dallas, blieb kinderlos und war damit sehr zufrieden. Sie fungierte als Vorsitzende eines halben Dutzends gemeinnütziger Gesellschaften und Vereine und brachte ihre Tage damit zu, Wohltätigkeitsbasare und Spendenveranstaltungen zu organisieren. Ezzy fand das Leben, das sie an der Seite ihres spießigen, versnobten Mannes führte, entsetzlich. Aber sie schien glücklich zu sein, und das, sagte sich Ezzy, war wohl die Hauptsache.
Er beanspruchte keine Anerkennung dafür, daß seine Kinder Erfolg hatten. Die gebührte einzig Cora. Auf ihn angewiesen – wären die beiden wahrscheinlich völlig mißraten.
Seine Verranntheit, dieses unablässige Grübeln über Patsy McCorkles Tod, belastete das Familienleben seit zweiundzwanzig Jahren und tat es noch. Cora war glücklich über
die Freiheit, die sie mit seinem Eintritt in den Ruhestand gewonnen hatten. Aber Ezzy wußte, daß er niemals frei sein würde, solange dieser Fall ungelöst blieb. Für die meisten war er Schnee von gestern. Kaum einer erinnerte sich, niemand interessierte sich. Außer Ezzy. Und wenn er sich vorgemacht hatte, er könnte ihn endlich auf sich beruhen lassen, so zerstörte die Nachricht von Carl Herbolds Gefängnisausbruch vor zwei Tagen diese Selbsttäuschung aufs neue.
Er hatte seine Frau nie belogen und wollte jetzt nicht damit anfangen. Oft hätte eine Lüge die Dinge erleichtert und die Harmonie erhalten; aber Ezzy war der Überzeugung, daß Betrug in einer Ehe nichts zu suchen hatte. Außerdem besaß Cora die Fähigkeit, selbst die harmloseste kleine Lüge sofort zu durchschauen.
Sie wußte wahrscheinlich ganz genau, daß er an diesem glühendheißen Nachmittag nicht auf den Fluß hinausgefahren war, um zu fischen.
Das Angelzeug und den Kasten mit den lebenden Grillen ließ er im Boot, nahm nur die Kühltasche und die Provianttüte mit zu dem umgestürzten Baum. Gott allein wußte, wie lange er schon hier lag – was ihn gefällt hatte. Der Stamm war von Flechten und wildem Gerank überzogen. Insekten hatten ihn ausgehöhlt, aber er trug noch Ezzys Gewicht, als dieser sich auf ihm niedersetzte. Ezzy öffnete eine der Coladosen und trank durstig. Mit seinen Gedanken ganz woanders, begann er, von den Maischips zu essen.
Immer wenn sein Blick auf die Stelle fiel, wo Patsy McCorkle gestorben war, erinnerte er sich jenes Entsetzens, als er am Morgen nach ihrem Tod ihre Leiche erblickte.
»Hat irgend jemand sie angerührt?«
Das war das einzige, was ihm
Weitere Kostenlose Bücher