Nachtglut: Roman (German Edition)
wirklich, ich hätte sie umgebracht?«
Sie schrieb auf den Block. »Er weiß es noch nicht.«
»Aber er verdächtigt mich?«
Ihr Blick wich ihm aus.
»Schon gut«, winkte Jack ab. »Ich spür’s ja.«
Er trank die Flasche aus und warf sie in einen leeren Mülleimer, wo sie mit lautem Scheppern landete. Jack zuckte zusammen. »Tut mir leid.«
Sie hob die Hände an ihre Ohren und hob die Achseln.
Ärgerlich sagte er: »Es ist zum Verrücktwerden. Ich weiß, daß Sie nichts hören, aber ich vergesse es andauernd.«
Mit einem verständnisvollen Nicken schrieb sie auf ihren Block: »Das geht allen so. Bei meinen Eltern und Dean war es auch so. Und Delray geht es nicht anders. Sogar die Menschen, mit denen ich lebe, vergessen es.«
Er las das Geschriebene. Zwar hätte er gern mehr über ihre Gehörlosigkeit erfahren, aber er wollte sie mit seinen Fragen nicht vor den Kopf stoßen. »Anna«, begann er vorsichtig,
»es geht mich nichts an, ich weiß. Ich bin nur neugierig. Und wenn Sie nicht darüber reden wollen, dann versteh ich das.«
Sie bedeutete ihm fortzufahren.
»Na ja, ich hätte gern gewußt – waren Sie Ihr Leben lang gehörlos? Sind Sie ohne Gehör geboren?«
»Ja.«
»Oh!«
Jack senkte den Kopf und rieb mit dem Daumen über die senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen. Es war eine Geste reiner Verlegenheit, weil er nicht wußte, wie er reagieren sollte.
Schließlich hob er den Kopf wieder und lächelte zaghaft. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Glauben Sie mir, ich will Sie nicht bemitleiden. Es interessiert mich einfach nur.«
Sie schrieb: »Ich merke es genau, wenn jemand mich ansieht und denkt, ach, die arme kleine Taubstumme. Und ich merke es auch, wenn jemand mich für blöd hält. Sie verhalten sich nicht so wie diese dummen Leute.«
Er seufzte auf. »Das ist eine Erleichterung. Ich mach mich nämlich nicht gern lächerlich.«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
Einen Moment lang sah er sie an, dann blickte er zu seinen Stiefeln hinunter. »Neulich abend…« Als ihm bewußt wurde, daß er zum Boden sprach, hob er den Kopf und setzte noch einmal neu an. »Warum waren Sie neulich abend so dagegen, daß ich die Zeichensprache lerne?«
Sie bedachte sorgfältig ihre Antwort, ehe sie sie niederschrieb. Als sie fertig war, hielt sie ihm den Block hin. »Ich war erstaunt, daß Sie sie lernen wollten. Erst mal lehnte ich Sie ab, weil ich nicht wußte, wie ich mich verhalten sollte. Niemand außer Dean hat sich je bemüht, meine Sprache zu lernen.«
Jack hätte ihre Worte kein zweitesmal zu lesen brauchen
– aber er tat es, weil das, was sie geschrieben hatte, nicht stimmte. Delray hatte die Zeichensprache erlernt und ebenso David. Doch sie hatte Dean Corbett und Jack Sawyer herausgehoben, und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, was er mit ihrem einstigen Gatten gemeinsam hatte. Welche Verbindung sah sie zwischen ihm und ihrem verstorbenen Mann?
Die Frage verlangte intensives Nachdenken – aber nicht jetzt, da sie, knöcheltief in frischem Stroh, einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden und sie ihm so nahe war, daß er ihre Wimpern hätte zählen können.
Auch sie war sich offenbar dieser Nähe bewußt; plötzlich schien sie verwirrt und begann vor ihm zurückzuweichen. Gewiß, daß sie ihm gleich gute Nacht wünschen würde, hob er die Hand, um sie aufzuhalten.
»Warten Sie! Schauen Sie mal.« Nachdem er die Gabel an die Stallwand gelehnt hate, buchstabierte er stolz seinen Namen im Fingeralphabet.
Sie lächelte, bis er das letzte Zeichen bildete. Da schüttelte sie leicht den Kopf. Mit erhobener Hand, um es ihn deutlich sehen zu lassen, bildete sie das Zeichen für ›K‹.
Er versuchte es noch einmal. »So?«
Noch immer nicht recht einverstanden, ergriff sie seine Rechte. Gewissenhaft nahm sie sich jeden einzelnen seiner Finger vor, krümmte den kleinen und den Ringfinger abwärts zu seiner Handfläche, knickte den Mittelfinger, stellte seinen Zeigefinger aufrecht und legte dann seine Daumenspitze genau abgezirkelt an den Mittelfinger. Sein Handgelenk locker umfaßt haltend, musterte sie ihr Werk, ließ es gelten und sah lächelnd zu ihm auf.
Aber Jack lächelte nicht.
Hastig ließ sie seinen Arm los und trat zurück.
Ebenso hastig zog er seine Hände zurück und schob sie in die Gesäßtaschen seiner Jeans.
Die Luft schien plötzlich dichter, machte das Atmen
schwer, und seine Stimme klang spröde vor Trockenheit, als er sagte: »Ich
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