Nachtglut: Roman (German Edition)
hatte als dies momentane Dilemma. Da Delray nicht zum Mittagessen kam, machte sie ein paar Brote und fuhr damit zur Weide hinaus.
Sie hatte ein wenig Angst davor, wie David auf den Anblick der toten Kühe reagieren würde, aber er schien eher neugierig als bekümmert. Es wäre anders gewesen, wenn eines der Pferde gestorben wäre. Die Pferde sah er jeden Tag, fütterte sie manchmal mit der Hand. Sie hatten Namen. Die Herde war etwas Unpersönliches.
Aber Delray war sehr aufgewühlt. Er dankte ihr für das Mittagessen, blieb aber schroff. Hätte sie nicht selbst Jack Sawyer ein Brot angeboten, wäre der leer ausgegangen. Delray hatte keinen Blick für seine Umgebung; seine ganze Aufmerksamkeit galt Dr. Andersen, der soeben die Kadaver untersuchte.
Anna war mit David zum Haus zurückgefahren, bevor der Transporter kam, um die toten Tiere abzuholen. Delray kehrte erst zum Abendessen zurück. Er schien todmüde, war gereizt und kurz angebunden. Sie versuchte gar nicht,
ein Gespräch anzufangen. Und sie riet David, seinen Großvater in Ruhe zu lassen. Sobald sie gegessen hatten, ging Delray nach oben in sein Schlafzimmer.
Jetzt, da auch David im Bett lag und sie etwas Zeit für sich hatte, war sie unter dem Vorwand, die Fotosachen aufräumen zu wollen, noch einmal in den Speicher hinaufgestiegen.
Sie hob den Apparat vom Boden auf und hatte das Gefühl, er läge schwerer in ihrer Hand, als sie ihn in Erinnerung hatte. Prüfend betrachtete sie ihn, drehte ihn erst auf die eine, dann auf die andere Seite, blies ein Stäubchen vom Objektiv, hob ihn dann ans Auge, um durch den Sucher zu blicken.
Es war zu dunkel hier oben, man konnte kaum etwas sehen; trotzdem spielte sie mit der Belichtung und der Schärfeeinstellung. Sie stellte die Filmempfindlichkeit ein, als wäre ein Film im Apparat, hob ihn dann wieder an ihr Auge und knipste.
Es war ein wunderbares Gefühl. Sie knipste noch einmal.
Sollte sie – konnte sie – wieder damit anfangen? Anna hatte den Apparat seit Deans Krankheit nicht mehr angefaßt. Damals war sie praktisch den ganzen Tag mit dem Haushalt und seiner Pflege beschäftigt gewesen. Sie hatte ihm nicht dafür gegrollt, daß seine Krankheit sie so stark forderte. Voller Hingabe pflegte sie ihn – um nichts hätte sie diese Zeit, die sie noch miteinander zu verbringen hatten, missen wollen.
Aber es war natürlich nicht daran zu rütteln, daß sie die Fotografie geopfert hatte, zuerst Deans Pflege, dann Davids Betreuung. Und als David selbständiger geworden war und sie sich etwas Zeit hätte nehmen können, hatten ihr Gewohnheit und Übung gefehlt. Jetzt war soviel Zeit vergangen, daß sie wahrscheinlich alles vergessen hatte, was sie einmal über die Kunst und die Technik der Fotografie gelernt hatte. Zudem gab es technische Entwicklungen. Wenn
sie wieder anfangen wollte, dann ganz von vorne, als blutige Amateurin.
Doch diese Erkenntnis konnte ihre Erregung nicht dämpfen. Allein schon das Gefühl, wieder einen Apparat in den Händen zu halten! Es würde sicher nicht einfach werden, aber sie hatte Lust zu lernen. Sie konnte sich mit den neuen Produkten und Techniken vertraut machen. Ihre Gehörlosigkeit war vielleicht ein Handicap, aber nur soweit sie selbst es zuließ. Denn darin steckte auch Motivation statt Behinderung.
Wenn schon sonst nichts, sollte sie wenigstens anfangen, sich nicht mehr mit bloßen Schnappschüssen von David zu begnügen. Ihr Sohn wäre ein wunderbares Sujet. Sie könnte mit verschiedenen Objektiven und Belichtungen experimentieren … könnte den Stil vervollkommnen, den sie seinerzeit angestrebt hatte, bevor sie ihre Fotosachen weggepackt hatte.
Nach fleißiger Übung könnte sie ihr Repertoire vielleicht erweitern, auch anderes fotografieren als David. Andere Menschen. Nicht unbedingt schöne Menschen. Interessante Physiognomien. Menschen mit Fehlern und Unvollkommenheit – oder Charakterköpfen.
Jack Sawyer zum Beispiel. Sein Gesicht wäre ein dankbares Sujet für einen Fotografen. Aus Fleisch und Knochen und dennoch eine Landschaft, aus ebenen Flächen, Kanten und Furchen gebildet. Von Wind und Wetter geformt. Von den Jahren gezeichnet und dennoch zeitlos. Ein Gesicht, das Geschichten ohne Worte erzählte.
Worte wären ohnehin verschwendet gewesen, da sie ja nicht gehört werden konnten.
Anna hatte die Bedeutung der Wörter gelernt. Sie besaß einen ungewöhnlich großen Wortschatz und hatte kaum Schwierigkeiten, ihre Gedanken in die geschriebene und
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