Nachtjaeger
solch heftiges Verlangen ergriff ihn, dass ihm einen Moment lang schwindlig wurde. Dann begriff er, dass sie träumte.
Er spürte, wie der Boden unter ihm verschwand, wie sich die Grundfeste von Gesetz, Ordnung und Stammesrecht, sein gesamtes Leben aus Pflicht und Opfer, Sicherheit und Schweigen auflösten. Jenna wurde mit einem plötzlichen Sinneswandel in ihm zu dem einzigen Wesen, das er begehrte.
Aber er war der Alpha und sie ein Halbblut, Tochter eines Verstoßenen. Ihre Zukunft hing an einem seidenen Faden, ihr Leben war in großer Gefahr.
Er durfte sie nicht zu der Seinen machen.
Ihre Haarsträhne glitt aus seinen Fingern, und er richtete sich mit pochendem Herzen auf. Dann wandte er sich zum Gehen.
5
Als sich Jenna für die begehrte Stelle einer Sommelière bei Mélisse vorstellte, war sie zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Sie hatte keinen College-Abschluss, keine Ausbildung und keine Erfahrung.
Was sie besaß, war pures Talent.
Ihr Geruchssinn war so ausgeprägt, dass sie einen Hauch von Lavendel, die bloße Andeutung von Graphit und die ferne Erinnerung an schwarzen Trüffel im Bouquet eines jeden Weins problemlos erkennen konnte.
Obwohl das Mélisse für seine großen Weinauswahl bekannt war, die seit Eröffnung des Restaurants von einer Reihe mittelalter, eitler Männer auf eine Größe von sechstausend Flaschen der besten Tropfen erweitert worden war, stellte man Jenna bereits vor dem Ende des ersten Vorstellungsgesprächs ein. Man war von ihrer Begabung tief beeindruckt.
Der Besitzer des Restaurants, ein schlanker, älterer Herr namens Fran ç ois Moreau, stellte zehn Flaschen Wein in braunen Papiertüten auf den langen Eichentisch in dem Séparée für Privatfeiern. Dann schenkte er aus jeder Flasche einen Schluck in zehn Riedel-Weingläser ein.
»Sagen Sie mir«, erklärte er mit einem starken französischen Akzent, als er auf die Ansammlung von Weinen zeigte, »welcher Wein in welchem Glas ist.«
Er schob seine Brille zurecht und faltete die Hände, die mit blauen Adern überzogen waren, über dem zweiten Knopf seines Nadelstreifenanzugs. Dann schenkte er ihr ein gelassenes, wenn auch aufmerksames Lächeln.
Jenna erwiderte das Lächeln und legte los.
Sie konnte ihm nicht nur die genaue Rebsorte jedes Weins nennen, sondern auch ob dieser in Hanglage oder am Fluss, in der Höhe oder in der Ebene gewachsen war. Zudem wusste sie die genaue Prozentzahl der jeweiligen Rebsorten, wenn es sich um eine Mischung handelte.
Mrs. Colfax, die Monsieur Moreau zu ihren Verehrern zählte und das Vorstellungsgespräch arrangiert hatte, war seit Jahren eine großzügige Gastgeberin für Jenna gewesen. Sie hatte ihren Wein und ihr Wissen mit der jungen Frau geteilt, und Jenna hatte nichts davon vergessen. Ihre Erinnerung an Sinneswahrnehmungen war genauso ausgeprägt wie ihre Intuition, ihre Stärke, ihre Wendigkeit und Schnelligkeit.
All jene Dinge, die ihre Mutter sorgfältig hatte unter Verschluss halten wollen.
Jenna begann schon am nächsten Abend. Sie liebte ihren Job mehr als alles andere im Leben – trotz der unvermeidlichen Diskriminierung, die sie als Frau in einem sogenannten Männerberuf erwartete.
An diesem Abend war sie deutlich früher als nötig bei der Arbeit erschienen – lange vor den ersten Gästen. Sie stand jetzt hinter der geschwungenen Bar, Becky, der quirligen, rothaarigen Barkeeperin, die erst vor Kurzem von der Konkurrenz abgeworben worden war, gegenüber.
Inzwischen war es spät, kurz vor der Sperrstunde, und Jennas Füße schmerzten.
Sie hatte an diesem Abend drei schwierige Gäste bedient. Alles ältere Männer, die sie so beäugt hatten, als ob sie sich überlegten, wie viel sie wohl auf einer Auktion kosten würde, ehe sie Jenna mit Fragen über die Weinkarte bombardierten. Sie wollten genau wissen, welcher Wein zu welchem Essen passte und welche feinen Unterschiede es zwischen den Jahrgängen gab. Doch jeder der Männer hatte irgendwann einsehen müssen, dass Jenna wusste, wovon sie sprach und nicht nur irgendein Mädchen war, das zufällig für den männlichen Sommelier einsprang.
Jenna hatte schlechte Laune.
Als sie diese ungewöhnliche Welle von Elektrizität erneut in ihrem Körper spürte, hätte sie eigentlich wissen müssen, dass die Dinge nur noch schlimmer werden sollten.
»O là là«, murmelte Becky so leise, dass nur Jenna es hören konnte. Sie wollte gerade ein Weinglas in das Regal über ihren Kopf stellen, als sie mitten in der Bewegung inne
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