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Nachtjaeger

Nachtjaeger

Titel: Nachtjaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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übernahmen das Kommando. Leander bestand darauf, dass man Jenna als eine der Ersten untersuchte, aber bei ihr schien alles in Ordnung zu sein. Sie war zwar ziemlich durcheinander, fühlte sich aber fit und unverletzt. Man riet ihr, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen. Dann wandten die Sanitäter ihre Aufmerksamkeit den anderen Anwesenden zu.
    Sie wich ein paar Schritte zurück, als er zu ihr trat, und sah ihn an, als ob sie auf einmal ein schreckliches Geheimnis kennen würde – sein Geheimnis. Dann verschwand sie wie ein Geist in der Nacht, ehe er noch etwas zu ihr sagen oder sie aufhalten konnte.
    Sie war unglaublich schnell. Sie konnte noch schneller rennen als er, obwohl er der Schnellste und Stärkste der ganzen Kolonien war. Er war schneller als jedes andere Raubtier auf der Erde.
    Außer offensichtlich ihr.
    Auch darauf war er nicht vorbereitet gewesen.
    Als er ihre Spur an einer dunklen Ecke vor einer Bank in der Second Street verlor und nur noch einen Hauch ihres Parfüms wahrnahm, wenn er all seine Sinne öffnete – ein Parfüm, vermischt mit erhitzter, salziger Luft wie eine Erinnerung an etwas beinahe Vergessenes –, drehte er fast durch.
    Ihr einziger Zufluchtsort, den er kannte, war ihre Wohnung. Es war auch der einzige Ort, an dem es sinnvoll war, auf sie zu warten. Er gab sich die größte Mühe, nicht entdeckt zu werden. Vorsichtig zog er seine Kleider hinter einer stinkenden Mülltonne in einer Gasse aus und verwandelte sich. Er ließ den handgenähten, italienischen Anzug zurück, als ob es sich um Innereien handeln würde, und wurde zu einem feinen Nebel, der vor den Mauern ihres Apartmentblocks schwebte.
    Stundenlang verweilte er in der warmen Abendluft und breitete sich so dünn aus, dass es beinahe unangenehm wurde. Er befürchtete, dass ein stärkerer Windstoß ihn zerreißen könnte. Zum Glück war es nicht kalt. Wenn er so sterben würde, blieben nicht einmal irgendwelche Knochen von ihm übrig.
    Die Nacht war trocken, obwohl sie sich am Meer befanden. Das Klima in Los Angeles war insgesamt viel trockener als das in England. Er musste nicht atmen, als er so durchsichtig und körperlos wie Rauch dahinwaberte, und er spürte auch seinen Herzschlag nicht mehr, ebenso wenig wie das Rauschen des Bluts in seinen Adern. Die Empfindungen und die Bedürfnisse seines Körpers hatten sich aufgelöst. Er fühlte sich friedlich. Ruhig.
    Wenn da nicht seine Gedanken gewesen wären.
    Leander stellte sich vor, wie Jenna verloren durch die Straßen irrte und von Drogensüchtigen, Vergewaltigern oder Bandenmitgliedern angegriffen wurde. Je länger er wartete, desto schrecklicher wurden seine Fantasien. Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er sich. Wenn er die Gabe der Weitsicht gehabt hätte, würde er jetzt wissen, wo er sie suchen müsste. Er hätte sie beschützen können.
    Er hätte irgendetwas tun können.
    Endlich kam sie durch die Stille der frühen Morgenstunden auf ihr Haus zugestolpert. Sie wirkte wie ein Zombie, der gerade erst von den Toten erwacht war: mitgenommen und erschöpft, bleich, starr und mit geweiteten Augen. Ihr elegant geschnittenes Kleid war zerknittert und machte den Anschein, als ob sie in ihrem Auto geschlafen hätte oder gestürzt wäre. Mehrmals hintereinander.
    Ihr Anblick half nicht, Leander zu beruhigen.
    Er glitt die Mauer des alten Gebäudes herab, vorbei an Rissen und Unebenheiten, an dunklen Fensterscheiben, durch Efeu und Hibiskusblüten, bis er schließlich zu ihrem Schlafzimmer kam.
    Dort legte er sich als grauer Nebel auf das Fensterbrett und wartete.
    Jenna betrat durch den schwach erleuchteten Flur von der Küche aus das Zimmer. Sie wirkte wie ein Gespenst, das auf einmal sichtbar geworden war, und bewegte sich so langsam, als ob sie unter Drogen stünde. Sie hatte die Hände leicht ausgestreckt, da sie sich nicht zuzutrauen schien, ohne ihre Hilfe den Weg ins Bett zu finden. Sie machte kein Licht an. Einen Moment lang stand sie auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer, die Hand auf dem Türknauf, und sah sich um. Stumm blickte sie auf ihr Bett, den kleinen Schreibtisch in der Ecke, auf dem eine Lampe und ein gerahmtes Foto standen, auf die halb offene Schranktür sowie die Schuhe, die sie Stunden zuvor erst an- und dann wieder ausgezogen hatte, und die nun noch auf dem Teppich vor ihrem Bett lagen.
    Schließlich fuhr sie sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht, strich die Haare glatt und fasste hinter sich, um ihr Kleid zu

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