Nachtjaeger
zerknittertes, weißes Seidenhemd abhoben, hingen lose über seine Schultern.
Morgan seufzte und wandte ein letztes Mal mit einem gewissen Bedauern den Blick auf die Stapel teurer, unnützer Dinge. Offenbar konnte sie ihren Plan an diesem Morgen nicht in die Tat umsetzen.
Noch einmal alles anprobieren musste warten.
Leander hatte Jenna die ganze Nacht über beobachtet. Regungslos und stumm hatte er in ihrem Schlafzimmer gesessen, während sie schlief – jederzeit bereit, sich in Nebel aufzulösen, falls sie aufwachte. Er suchte nach Anzeichen dafür, dass sie sich vielleicht doch nicht so gut fühlte, wie sie das dem Notarzt versichert hatte.
Man hatte diesen nach dem Erdbeben zum Mélisse gerufen. Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten waren in der ganzen Stadt im Einsatz, um die Verwundeten zu versorgen. Meist handelte es sich nur um kleine Blessuren – Schnitte von herabgefallenem Glas, Kratzer von Stürzen, Prellungen und ein paar Fälle von Schock bei den älteren Bewohnern.
Offenbar waren keine Gebäude eingestürzt, obwohl einige Häuser – wie das, in dem sich das Mélisse befand – zerbrochene Fensterscheiben und Risse in der Fassade aufwiesen. Man erklärte Leander, dass es sich um eines der weniger schlimmen Erdbeben gehandelt hatte, die in den letzten Jahren Los Angeles heimgesucht hatten.
Ganz gleich, wie schwach das Erdbeben auch gewesen sein mochte – für ihn bedeutete es eine große Aufregung.
Beim ersten Stoß tief im Inneren der Erde war Jenna halb bewusstlos an ihm herabgesackt. Sein Herz war vor Schreck fast stehen geblieben, während seine animalischen Instinkte übernahmen.
Er nahm sie in seine Arme – ihre Knie hingen über seinem linken Unterarm, während ihr Kopf über seinem rechten herabbaumelte – und eilte mit ihr durch die Hintertür des Restaurants auf die Terrasse hinaus. Dort war es menschenleer. Es war ein sicherer Ort, in Dunkelheit gehüllt, und es bestand keine Gefahr, dass sie etwas treffen würde, das von oben herabfiel.
Leander stand umgeben von Zypressen und Eichen zitternd unter dem dunklen Himmel und drückte Jenna an sich.
Die Äste der Bäume schwankten heftig, während die Gebäude in ihrer Nähe unheimlich ächzten. Sie wurden bis in ihre Grundfesten erschüttert, als die Erde, einer lebenden Kreatur gleich, erbebte. Sein Magen verkrampfte sich.
Wenn es Jenna nicht gegeben hätte, die völlig regungslos in seinen Armen lag, hätte er sich nun in einen Panther verwandelt und wäre auf den nächsten Baum geklettert, um dort wütend den Wahnsinn unter sich anzufauchen.
Ihr Gesicht sah im Mondschein sehr klar aus – bleich und schön wie aus Marmor. Ihre langen Wimpern schienen ein dunkler Strich auf den perfekten Wangen aus Elfenbein zu sein. Er wusste, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war, obwohl sie die Augen geschlossen hielt und ihr Atem flach ging. Er wusste es, weil sie eine Hand fest an seine Brust drückte.
Die Hitze ihrer Finger brannte sich durch den Stoff seines Hemds.
Ihm war nicht klar, ob sie Sicherheit im regelmäßigen Schlag seines Herzens suchte oder nicht wollte, dass er ihr näherkam. Vermochte sie zu spüren, wie sehr er sich danach sehnte, sie auf die Stirn zu küssen, auf die Haare, auf die Wangen?
Er wollte sie überall mit den Lippen berühren, selbst als der Boden unter seinen Füßen noch mehr schwankte.
Als das Erdbeben aufhörte und sich die Welt wieder einigermaßen normal zu benehmen schien, öffnete Jenna die Augen und sah fragend zu ihm auf. Der Lärm von Hunderten Alarmanlagen erfüllte die Nachtluft und schien wie ein Requiem über der Stadt zu ertönen. Hinzu kamen panische Rufe und Schreie aus dem Restaurant hinter ihnen.
»Ich habe es gespürt«, flüsterte sie zu ihm hoch. Ihre Stimme klang zaghaft. Jetzt hielt sie sich an seinem Hemd fest. »Ich habe es in meinen Knochen gespürt, ich habe es gerochen, ich habe es geschmeckt.«
In diesem Moment verstand Leander, dass der Rat die Antwort auf seine Frage erhalten hatte.
Und er ebenfalls.
Er ließ sie sanft auf eine Chaiselounge nieder, flüsterte ihr einige beruhigende Worte ins Ohr und ließ sie dann für einen kurzen Moment allein, um im Inneren des Restaurants zu telefonieren. Drinnen war ein leichtes Chaos ausgebrochen, das Geoffrey überhaupt nicht im Griff hatte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, abwechselnd zu brüllen, hysterisch in der Luft herumzufuchteln und zu hyperventilieren. Die Sanitäter trafen wenige Minuten später ein und
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