Nachtjaeger
Handgelenk gewickelt waren, funkelten rot. Sie warf ihre langen, schimmernden Locken zurück und blickte auf den kaputten Sessel, auf dem Leander gesessen hatte. »Wenn sie nicht zu Hause ist«, fuhr sie fort, »was sollen wir dann tun? Stundenlang vor ihrer Wohnungstür abhängen und darauf warten, dass sie hoffentlich auftaucht? Wäre das nicht verdammt auffällig? Oder sollen wir versuchen, sie ausfindig zu machen?«
»Wir müssen sie nicht ausfindig machen«, unterbrach sie Leander mit ruhiger Stimme. Er stellte das Telefon auf die Basisstation zurück. Dann sah er die beiden mit einem seltsamen Ausdruck an – fast so, als ob er gerade etwas ausgesprochen Faszinierendes in Erfahrung gebracht hätte.
»Sie hat uns gefunden. Das war gerade die Rezeption. Sie ist unten in der Lobby.«
8
Jenna erinnerte sich genau an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte.
Es war wenige Tage vor ihrem zehnten Geburtstag gewesen, und es hatte heftig geregnet. Das Wasser prasselte aus einem schiefergrauen, verhangenen Himmel auf die Erde herab. Ein solches Wetter wäre für Juni an vielen Orten der Erde ungewöhnlich gewesen, doch zu jener Zeit hatte ihre Familie auf Kauai gelebt, einer der kleineren hawaiianischen Inseln. In diesem grünen, tropischen Paradies regnete es fast jeden Tag.
Sie waren erst vor wenigen Wochen dort eingetroffen. Im Wohnzimmer standen noch unausgepackte Schachteln herum. Ihre Mutter machte sich nie die Mühe, alles auszupacken, denn sie wusste, dass sie über kurz oder lang sowieso wieder weiterziehen würden.
Ein Duft üppiger Vegetation, blühender Frangipani und feuchter, schwerer Erde durchdrang ihr kleines Zuhause. Ihre Mutter hatte alle Lichter angemacht, um die Düsterkeit des tropischen Himmels zu verscheuchen. Doch ihr Vater war schweigend durchs Haus gegangen und hatte die Lampe wieder ausgeschaltet. Still, angespannt, kaum greifbar.
Das war eine seiner Eigenschaften, an die Jenna sich besonders lebhaft erinnerte. Er hatte es stets bevorzugt, im Dunkeln zu sein, wie eine jener Nachtkreaturen des Waldes auf der Jagd nach Futter.
Sie hatte ihn wie so oft heimlich beobachtet, indem sie es sich unter der Treppe bequem gemacht hatte. Dort hatte sie sich eine kleine Höhle aus Kissen und Decken eingerichtet. Hier saß sie mit ihrem geliebten Teddybär und schaute ihrem Vater zu. Dem Teddy fehlte ein Auge. Das andere funkelte schwarz aus dem karamellfarbenen Plüsch hervor.
Ihre Mutter meinte, dass Jenna eigentlich schon zu groß wäre, um ständig einen Teddy bei sich zu haben. Aber Jenna vermochte sich nicht von ihm zu trennen. Der Teddy und die Kleider, die sie trug, waren die einzigen greifbaren Beweise dafür, dass sie eine Vergangenheit besaß.
Ihr Vater erwischte sie dabei, wie sie ihn beobachtete. Das tat er immer. Selbst wenn er sie nicht aus ihrem Versteck rief, spürte sie, dass er wusste, wie ihm ihre Augen überallhin folgten. Diesmal jedoch sprach er sie direkt an und gab ihr ein Zeichen, unter der Treppe hervorzukommen.
Sie hielt den Teddy in den Armen, als sie zu ihm trat und auf seinen Schoß kletterte. Er saß in einem Schaukelstuhl und sah zu, wie der Regen silbernen Tränen gleich die Fensterscheiben herablief. Draußen sah Jenna die Bäume, das Gras und die Blumen nur noch als schwache Farbflecken, die immer weniger gut zu erkennen waren, je stärker der Regen wurde.
»Jenna«, murmelte er und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Er hielt sie fest an sich gedrückt, während er sich mit einem Fuß von dem Holzboden abstieß und vor- und zurückschaukelte. »Weißt du, wer dich lieb hat?«
Sie war noch zu klein, um das Beben in seiner Stimme wahrzunehmen. Also lächelte sie und schlang die Arme um seinen Hals, um dann ihr Gesicht in der warmen Stelle zwischen seiner Schulter und seinem Hals zu vergraben. Sie war glücklich und fühlte sich völlig geborgen. Er hatte ein Feuer in dem kleinen Kamin im Wohnzimmer gemacht, das nun fröhlich knisterte und eine wunderbare Wärme verbreitete.
»Du, Daddy«, antwortete sie jedes Mal, wenn er ihr diese Frage stellte.
»Und weißt du auch, warum Daddy dich lieb hat?« Er legte den Kopf zurück, um sie mit seinen funkelnden Augen genau zu betrachten. Sein attraktives Gesicht war dem ihren so nahe, dass es ihr beinahe vor den Augen verschwamm.
Sie liebte es, ihn so zu sehen – verschwommen und unklar und ganz nah. Irgendwie kam er ihr in solchen Momenten greifbarer als sonst vor. Sie konnte seine Wimpern, die dunklen
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