Nachtjaeger
ganz anderes. Es fühlte sich an, als ob sie endlich hätte loslassen dürfen, es fühlte sich so an, als wäre sie nach Hause gekommen. Sie hätte jederzeit die Welt hinter sich lassen und für immer ein Nebel bleiben können.
Es war Leanders Stimme, als er sie rief, die Jenna vom Abgrund dieser herrlichen Vergessenheit zurückholte. In seinem sanften Tonfall klang eine Schwere an, die sie wie ein Gewicht auf den Boden zurückholte. Es kam ihr so vor, als ob er ihren Willen kontrollieren könnte, als ob der bloße Klang seiner Stimme sie derart tief berührte, dass sie alles stehen und liegen lassen würde, um dieser Stimme zu gehorchen – selbst das größte Vergnügen, das sie jemals erlebt hatte.
Das war das eigentlich Beängstigende gewesen. Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, was es bedeutete.
Jenna holte tief Luft und verabschiedete sich stumm von allem, was vor diesem Moment für sie existiert hatte. Sie hatte vor, ihr Versprechen Leander gegenüber zu halten, nachdem sich jetzt alles verändert hatte. Jetzt war der Schlüssel ins Schloss geschoben, die Tür war entriegelt und weit aufgestoßen worden.
Jetzt war sie Alice, die durch den Kaninchenbau ins Wunderland verschwand.
Sie verstand genau, was er meinte, als er ihr erklärte, sie müsse die Empfindungen kontrollieren, die auf sie einströmten. Sie hatte bereits vor vielen Jahren geglaubt, das gelernt zu haben. Doch jetzt war alles noch leuchtender und noch lauter. Ihre Umgebung bedrängte sie stärker als jemals zuvor.
Jeder Atemzug, den Leander tat, hörte sich wie ein raues Kratzen in ihren Ohren an. Jeder Sonnenstrahl, der durch die Fenster hereinfiel, verbrannte ihr die Augen. Jeder Geruch im Raum und jeder Geruch, der durch die offene Terrassentür hereinkam, bedrängte sie gnadenlos.
Sonnenwarme Haut, alte Wolle und parfümierte Seide, poliertes Holz, wohlriechende Salze, frisch gewaschene Bettlaken, gemähtes Gras, Autoabgase, trockene Luft. Fruchtbare Erde und ein erhitzter Himmel. Sie spürte jedes Tier in einem Umkreis von vielen Kilometern, dem das Blut durch die Adern pulsierte. Doch unter dem Ganzen fand sich jetzt etwas Neues, Düsteres und höchst Unangenehmes. Der Gestank menschlicher Verzweiflung zog sich wie ein Faden durch alles hindurch. Er stieg von den Menschen auf der ganzen Erde mit einer heftigen Bitterkeit in Jennas Nase. Leid. Einsamkeit. Schmerz. Reue.
Mehr als alles, was Leander sagte, brachte sie dieses Gefühl beinahe dazu, in Tränen auszubrechen. Doch sie hatte nicht vor, ihm das zu zeigen. Schließlich war auch sie noch immer ein Mensch und nur zur Hälfte eine Ikati, wie er sie genannt hatte. Das Blut ihrer Mutter floss in ihren Venen genauso wie das ihres Vaters.
Es war das Leid ihrer Mutter, das sie in den Menschen auf den Straßen der Stadt roch. Und ihr Vater …
»Weißt du, wo mein Vater ist?«, fragte sie Leander mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. Den Blick hatte sie noch immer auf die Stadt vor dem Fenster gerichtet.
Er antwortete, ohne zu zögern. »Ja, das weiß ich.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, um das erleichterte Schluchzen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Jetzt durfte sie nicht zusammenbrechen, es war nicht einmal ihre wichtigste Frage gewesen. Sie beobachtete einen Wanderfalken, der gemächlich im azurblauen Himmel seine Kreise zog, von einem Aufwind nach oben getragen wurde und dann weiterschwebte. Er war auf der Jagd. Seine grauen und schwarzen Federn zerzauste der Wind. Einen Moment lang spürte sie, wie seine Augen auf sie gerichtet waren, ehe er abdrehte.
Sie schluckte. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um die nächste Frage zu stellen. »Lebt er noch?«, wollte sie wissen und sah Leander dabei direkt an.
Leander sagte zunächst nichts. Er musterte sie nur schweigend und holte dann tief Luft.
Das war die Antwort, vor der sie sich gefürchtet hatte. Ihr Vater war also tot, seit Jahren tot. Er war gestorben, nachdem er einem Geist gleich aus ihrer Kindheit verschwunden war. Sie schloss die Augen, um gegen die Tränen anzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Dann schluckte sie, da sie einen Moment lang glaubte, nicht mehr atmen zu können.
Es verging eine lange Zeit, bevor sie wieder sprechen konnte. Währenddessen wiederholte sie immer wieder einen Satz in ihrem Inneren.
Er darf nicht sehen, wie du weinst. Er darf nicht sehen, wie du weinst.
Als sie schließlich sprach, war es ein heiseres Flüstern.
»Du musst mich zu ihm
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