Nachtjaeger
Wärme.
»Ich kann mich auch in Nebel verwandeln …«
»Können das nicht alle diese Ikati?«, unterbrach sie ihn.
»Nein. Nur sehr wenige, nur die begabtesten. Die meisten von uns sind eher erdverbunden.«
»Konnte sich mein Vater in Nebel verwandeln?«
Unter anderem, wollte er ihr antworten. Doch das schien in diesem Moment nicht klug zu sein. »Ja.«
Sie nickte zufrieden und wandte das Gesicht ab, um erneut durch das Fenster zu schauen. Dabei schlug sie die Beine übereinander, sodass ihm der warme, reine Duft ihrer Haut einen Moment lang in die Nase stieg. Er beobachtete, wie einer ihre schlanken Füße auf und ab wippte.
Der Kaschmirüberwurf, der ihre Beine bedeckte, wanderte über ein Knie bis zu ihrem Schenkel. Ihr schien das nicht weiter aufzufallen. Leander biss die Zähne aufeinander.
»Morgan? Christian?«
Es gefiel ihm gar nicht, dass der Name seines Bruders über ihre Lippen kam. »Keiner der beiden kann sich in Nebel verwandeln. Morgan hat die Gabe der Einflüsterung …«
»Der Einflüsterung?«, wiederholte sie. Ihre Stimme klang etwas schriller als zuvor. Sie hatte ihm den Kopf zugewandt und fixierte ihn nun mit weit aufgerissenen Augen. »Heißt das, sie kann die Gedanken eines anderen kontrollieren?«
»Hast du das denn nicht gesehen, als du mich berührt hast?«, entgegnete Leander überrascht.
Ihm war sogleich klar, dass es eine törichte Frage war. Sie zuckte zusammen und schloss kurz die Augen.
»Ich war zu sehr damit beschäftigt, die anderen Dinge zu sehen«, antwortete sie und wandte den Kopf wieder ab. Mit einem Schlag schienen die unnatürliche Ruhe und Gelassenheit wie ein Sturzbach von ihr abzufließen. Jetzt zeigte sich nur noch eine kaum unterdrückte Abneigung auf ihren Lippen.
Wieder versank sie in Schweigen.
Leander zwang sich dazu, entspannt zu bleiben. Er durfte nicht ungeduldig werden. Er musste gegen seinen Instinkt ankämpfen, sie wieder in seine Arme zu ziehen. Nachdem er mehrere Minuten lang beobachtet hatte, wie sie atmete und benommen über die Stadt hinweg auf den Horizont starrte, entschloss er sich, sie noch einmal anzusprechen.
»Gibt es noch etwas, was du mich fragen möchtest, Jenna?« Geduldig wartete er auf ihre Antwort.
Er wartete sehr, sehr lange.
Jenna starrte aus dem Fenster. Sie lauschte dem fernen Rauschen des Verkehrs auf den Straßen unterhalb der Suite, nahm den Geruch der heißen Pflastersteine und der welkenden Rosen wahr, der aus dem Garten zu ihnen hochstieg, und schmeckte die Asche ihres früheren Lebens auf ihrer Zunge. Sie hatte den Blick hinausgerichtet, sah jedoch in Wirklichkeit nichts. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, dass etwas passieren würde. Und jetzt das.
Das Gefühl, als sich ihr Körper in Nebel aufgelöst hatte, war das Aufregendste – und Beängstigendste –, das sie jemals erlebt hatte. Sie hatte es sich auf einem Aufwind aus heißer Luft bequem gemacht, den Rücken flach gegen den kühlen Putz der Decke gedrückt und alles wie zuvor gesehen und gehört – doch um ein Tausendfaches verstärkt. Als Nebel war sie so frei wie ein Geist, sich überall hinzubewegen, alles zu durchdringen. Sie musste sich nur darauf konzentrieren, und schon konnte sie in jede Richtung schweben.
Euphorie durchdrang sie, als ihr klar wurde, dass ihr Körper verschwunden war. Die ganze mühselige Last der Muskeln und Knochen war weg, die Schwerkraft hatte sich in nichts aufgelöst, und es blieb nur ein wunderbares Gefühl der Schwerelosigkeit zurück. Es war, als käme sie ins Paradies, nachdem sie eine halbe Ewigkeit lang in einer dunklen Zelle eingesperrt gewesen war.
Sie glaubte, vor Glück über diese Befreiung sterben zu müssen.
Es war natürlich nicht das erste Mal gewesen. Es war sporadisch immer wieder passiert, seit sie zehn Jahre alt war, nach dem Verschwinden ihres Vaters. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass er nie zurückkommen würde, und Jenna hatte sich in ihrem Zimmer eingesperrt und einfach in nichts aufgelöst. Es war nur ein Moment gewesen, und fast glaubte sie, es sich nur eingebildet zu haben. Doch dann geschah es wieder und wieder, jedes Mal, wenn sie wütend war oder irgendwie die Beherrschung verlor.
Das war auch der Grund, warum sie nie eine längere Beziehung mit einem Mann eingegangen war. Sobald sie emotional involviert war und ihre Kontrolle aufgab, war es vorbei. Seit Jahren schon war allerdings nichts mehr dergleichen passiert, denn sie war viel zu vorsichtig gewesen.
Doch diese Verwandlung war etwas
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