Nachtjaeger
bist.«
Sie sah zu, wie der Diener die letzten Splitter des Kristallglases auf eine Blechschaufel kehrte und dann hinter einer Tür verschwand. Nun richtete sie ihren Blick wieder auf Jenna. »Außerdem ist es nur ein Glas.« Sie lächelte und schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich muss leider gehen. Mein Mann Kenneth macht sich Sorgen, wenn ich zu lange verschwunden bin. Vor allem jetzt …«
Leander erhob sich ebenfalls und reichte seiner Schwester die Hand, als diese in einer elegant fließenden Bewegung ihrer schlanken Gliedmaßen mit raschelndem Rock aufstand.
»Tölpel«, murmelte sie leise, als sie seine Hand mit einem kühlen Lächeln nahm.
»Merci«, erwiderte Leander ebenso leise und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Er wusste, dass keine der beiden Frauen erfreut sein würde, wenn er sich jetzt ein Lächeln gestattete.
Er jedoch war es. Erfreut.
Wenn auch auf eine armselige Art und Weise. Es befriedigte ihn immens, dass Jenna endlich irgendeine Reaktion gezeigt hatte. Zugleich quälte es ihn, als er das Leid in ihren Augen bemerkte, nachdem sie das Porträt ihres Vaters erkannt hatte. Er hatte nur vorgehabt, sie so weit aus der Reserve zu locken, dass er einen Blick unter die eisige Oberfläche werfen konnte, die sie ihm präsentierte. Deshalb hatte er diesen Raum ganz bewusst für ihr gemeinsames Frühstück gewählt.
Doch jetzt wirkte sie völlig desorientiert und erschüttert. Sie starrte wie ein entsetztes Kaninchen auf die Schlange. Wie ein Kaninchen, das jeden Augenblick im Schlund dieser Schlange verschwinden würde.
»Dann verlasse ich euch beide jetzt«, murmelte Daria und wandte sich zum Gehen, wobei sie ihn noch immer aus dem Augenwinkel beobachtete.
Seine ältere Schwester hatte stets den ausgeprägtesten Gerechtigkeitssinn der drei besessen. Sie hatte immer darauf bestanden, dass es in ihren Spielen fair zuging, dass sie sich gerecht verhielten, selbst wenn das bedeutete, einen Vorteil zu verlieren. Sie war liebenswert und zutiefst freundlich, wie das schon ihre Mutter gewesen war.
Jetzt drehte sie sich noch einmal zu Jenna um und schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Jenna. Ich hoffe, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen können, sobald sich der Rat der Alpha zusammengefunden hat.«
»Der Rat der Alpha?«, wiederholte Jenna. Sie betrachtete den Tisch, das Essen und die Diener, die an der Wand standen. Doch Leander sah sie nicht an, und sie hatte offenbar auch nicht vor, noch einmal das Porträt ihres Vaters zu betrachten. Daria holte tief Luft, ehe sie sprach. »Offensichtlich hast du viel mit Jenna zu besprechen, Leander. Versuch diesmal, nichts zu vergessen«, sagte sie. Ihre blassen Augen schimmerten wie Eis, obwohl sie lächelte.
Nun wandte sie sich endgültig zum Gehen. Sie schritt an den Wandteppichen, den Lakaien und den Gemälden vorbei, und ihr Duft nach Teerosen und Handcreme hing noch eine Weile in der Luft. Sie hielt den Kopf ein wenig steif und schräg, was Leander zeigte, dass sie später noch ein Hühnchen mit ihm rupfen würde.
Jetzt wandte er sich an Jenna, die noch immer auf ihrem Stuhl saß, rosig, golden und voll verträumter Traurigkeit. Ihre perfekte, aufrechte Haltung schien etwas ins Wanken geraten zu sein.
Daria hat recht, dachte er und fühlte sich plötzlich schuldig. Ich bin ein Tölpel.
»Wie wäre es mit einem Spaziergang im Garten?«, schlug er abrupt vor und warf seine Serviette auf den Tisch. »Es ist ein wunderschöner Morgen. Vielleicht möchtest du etwas nach draußen gehen?«
»Draußen …«, murmelte sie und riss sich aus ihrer Betrachtung der kernlosen Traube, die sie zwischen den Fingern hielt. Sie ließ sie auf ihren Teller fallen und stand ruckartig auf, sodass der Stuhl über den Parkettboden kratzte.
Jetzt blinzelte sie Leander an. Endlich schien sie wieder bei sich zu sein. »Ja. Draußen wäre … besser.«
Während sie durch das Labyrinth aus Korridoren gingen, das von der Galerie zu den Glastüren am hinteren Ende des Landsitzes führte, sagte Jenna kein Wort. Sie lief nur anmutig neben ihm her und ignorierte die heimlichen, neugierigen Blicke der Bediensteten, an denen sie vorbeikamen.
Obwohl alle den Kopf gesenkt hielten und ausdruckslose Mienen an den Tag legten, war doch ein großes Interesse an Jenna deutlich spürbar.
Alle aus Sommerley hatten ihre Ankunft inzwischen gespürt. Sie war neu und anders
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