Nachtjaeger
so etwas zu organisieren. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, kann man sie kaum mehr davon abbringen.«
»Man braucht auch immer wieder Ablenkung von dieser Monotonie«, meinte Daria. Sie strich sich mit einer Hand über den Rock, als Leander ihr einen raschen Blick zuwarf.
»Ich hoffe, dass du etwas Passendes zum Anziehen findest«, fügte Daria hinzu und sah dabei Jenna an. Diesmal unterdrückte sie ein keckes Lächeln. Etwas an Daria erinnerte Jenna an ihre Mutter. Sie besaß die gleiche mühelose Eleganz und denselben Charme – eine Art, die einen sogleich entspannte, selbst wenn man sie noch nicht kannte. Zu ihrer großen Überraschung mochte sie Daria.
Jenna legte die Gabel beiseite und nahm das Kristallglas mit Orangensaft. Während sie einen Schluck der säuerlichen, kühlen Flüssigkeit zu sich nahm, sprach Leander weiter.
»Ich würde jedenfalls nicht das rote Valentino-Kleid tragen, wenn ich du wäre. Ich habe Morgan gebeten, es zurückzugeben. Ich glaube nicht, dass es zu deinem Teint passt.«
Daria sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. » Très gentile, mon frère «, murmelte sie. » Charmante comme toujours .«
Um die Wut, die in ihr aufstieg, als sie Leanders lässig dahingeworfene Bemerkung hörte, nicht zu zeigen, klammerte sich Jenna an ihr Glas. Sie warf einen Blick auf die Ölgemälde an der gegenüberliegenden Wand. Es fiel ihr nicht schwer, die Namen der Maler und die Titel zu lesen, die auf kleinen, goldenen Schildern unter den Gemälden angebracht waren.
»Nur aus Neugier«, sagte sie und schluckte einen weiteren Bissen Carpaccio hinunter. »Warum hängt hier ein Porträt von Marie Antoinette?«
Daria und Leander tauschten einen Blick aus. Dann nickte Leander beinahe unmerklich.
»Die unglückliche Reine de France war eine unserer Vorfahrinnen, meine Liebe«, erwiderte Daria und tupfte sich mit ihrer roséfarbenen Serviette den Mundwinkel ab. »Die letzte Vollblut-Königin der Ikati.«
»Königin der Ikati. Verstehe.« Jenna versuchte eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. »Natürlich. Und das Portrait darunter? Das von Michelangelo?«
Diesmal war es Leander, der ihr antwortete. »Du hast wirklich geglaubt, dass das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle von jemand so Einfältigem wie einem Menschen geschaffen wurde?« Er wirkte ein wenig enttäuscht.
»Wie konnte ich nur«, murmelte Jenna, während sie die anderen Porträts musterte. Ihre Überraschung verwandelte sich in einen Schock, als sie alle Namen las.
Amenemhet I., Kleopatra, Michelangelo, Sir Charles Darwin, Sir Isaac Newton …
»Wir nennen das die Galerie der Alpha, Jenna … Die Porträts, die du hier siehst, zeigen unsere mächtigsten Anführer und reichen bis zu den Anfängen unserer Spezies zurück. Oder zumindest soweit wir das wissen.«
Daria nahm ihre Teetasse und trank einen kleinen Schluck. »Wir mussten uns nicht verstecken, bis diese schrecklichen Römer anfingen, sich für uns zu interessieren…« Sie zuckte mit den Schultern und machte ein unglückliches Gesicht. Dann stellte sie die Teetasse wieder ab. »Man begann uns zu verfolgen. Wir wurden gejagt, und die meisten unserer Spezies kamen ums Leben. Seitdem mussten wir stets auf der Hut sein.«
»Gejagt?«, fragte Jenna überrascht. »Ihr wurdet von den Römern gejagt?«
Daria hielt einen Moment lang inne, ehe sie antwortete. »Ja, unter anderem.«
»Man hat uns aus unserer Heimat vertrieben«, erklärte Leander und musterte dabei Jenna eindringlich. »Man ernannte uns zu Staatsfeinden und gab uns zum Abschuss frei. Also begannen wir uns zu verstecken.«
»Wir mussten lernen, nicht aufzufallen«, fügte Daria hinzu und strich mit einem Finger über den bemalten, zarten Schwung des Porzellans. »Natürlich kommen wir immer wieder in Kontakt mit den Menschen, wenn es nötig ist, zum Beispiel bei Geschäftsabschlüssen oder anderen Gelegenheiten, aber wir verraten nie, wer wir wirklich sind. Das ist viel zu gefährlich.«
»Aber das geschah doch schon vor vielen Hundert Jahren«, protestierte Jenna. »Vor Tausenden. Glaubt ihr denn nicht, dass sich das verändert haben könnte? Seitdem ist so viel geschehen. Vieles ist besser geworden …«
»Der Mensch hat sich seit Anbeginn der Zeit nicht verändert«, erklärte Daria schlicht, ohne den Blick von ihrer Tasse zu wenden. »Über die Jahrhunderte ist es für uns sogar noch schlimmer geworden. Im vierzehnten Jahrhundert kam das Gerücht auf, dass sich Hexen in Katzen
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