Nachtjaeger
und mächtig. Selbst die Bediensteten redeten und tratschten über sie. Jeder wusste, wer sie war und warum sie hier war. Leander vermochte sie nicht daran zu hindern, Jenna anzusehen und ihr mit den Blicken zu folgen, ganz gleich, wie finster er die Diener auch musterte.
Zweimal spürte er, dass sich Jennas Augen auf ihn richteten. Doch als er sich ihr zuwandte, hatte sie bereits wieder den Blick gesenkt.
Sie traten durch die Glastüren nach draußen. In der kühlen, taufrischen Morgenluft klangen ihre Schritte leicht auf den Marmorplatten der Terrasse. Er blickte in den Himmel und sah die weißen und lavendelblauen Wolken, die dort wie Schafswolle ohne die Last eines Regens dahinzogen. Ein Schwarm Stare zog am Horizont vorbei, silbergrau und schwarz erhob er sich von den Baumwipfeln und funkelte wie Quecksilber im Licht der Morgensonne.
Es fühlte sich verdammt gut an, die frische Luft zu atmen. Die ganze Nacht über war er in der Bibliothek eingesperrt gewesen und hatte mit mehr als einem Dutzend anderer angespannter Männer, die dringend Schlaf benötigten, über Strategien und logistische Fragen diskutiert. Die Luft im Raum war abgestanden und unangenehm feucht gewesen.
Leander hatte Wachen an den Grenzen ihres Territoriums aufgestellt. Einige, die sich in Nebel verwandeln konnten, schwebten als kleine Wolken über dem Boden und patrouillierten jeweils zu zweit zusammen mit Dutzenden geschmeidiger, tödlicher Panther im Wald und in der Umgebung. Seine Befehle waren eindeutig.
Wenn ihr irgendjemanden entdeckt, irgendjemanden, der kein Ikati ist, dann tötet ihn.
Er warf Jenna einen Blick zu. Er durfte kein Risiko eingehen. Jetzt erst recht nicht.
Sie trug ein ärmelloses Kleid aus roséfarbener Baumwolle, das bis zu den Knien reichte und ihre schlanke Taille betonte. Es war eines der Kleidungsstücke, die Morgan für Jenna ausgesucht hatte. Das Kleid war feminin und weich und verlieh ihren elfenbeinfarbenen Wangen eine gewisse Farbe.
Er musste an Zuckerwatte und handgerührtes Erdbeereis und an viele andere rosafarbene und leckere Dinge denken, die er am liebsten auf der Zunge geschmeckt hätte.
»Bin ich der erste Mensch, der jemals hierhergekommen ist?«, fragte Jenna. Zwei Hausmädchen erstarrten, die gerade dabei gewesen waren, Körbe voller scharlachroter und violetter Blumen zu wässern. Sie machten mehrere Knickse, ehe sie mit großen Augen und aufgeregt flüsternd durch die Glastüren verschwanden, durch die Jenna und Leander gerade ins Freie getreten waren.
»Du bist kein Mensch«, verbesserte sie Leander. »Du bist ein Halbblut. Das ist etwas ganz anderes.« Sie liefen einige Marmorstufen hinunter, die von der Säulenhalle auf die großen Rasenflächen des Gartens führten. Die Luft um sie herum duftete süß und war schwer vor Feuchtigkeit. Hier roch es nach Rosmarin und Gartenrosen und nicht nach dem Smog, der in Los Angeles seine Lungen gefüllt hatte.
»Aber alle anderen hier sind wie du.«
Er neigte den Kopf.
»Wie kann man dann entscheiden, wer die Zügel in der Hand hat? Wie entscheidet man, wer ein Diener ist und wer dem Rat beitreten darf?«
»Als wir uns vor vielen Generationen hier niederließen, wurde jedem eine besondere Aufgabe zugeteilt – je nach Begabung. Die Begabten wurden zu Mitgliedern des Rats, die am wenigsten Begabten wurden Diener. Dazwischen gab es ein Dutzend hierarchisch strukturierte Ebenen. So ist es seitdem mehr oder weniger geblieben. Viele der Hausmädchen, Köche und Lakaien, die jetzt hier sind, hatten bereits Urgroßeltern, die meine Urgroßeltern bedienten.«
»Und vermutlich gibt es niemanden, der frei wählen darf. Das Wort des Alpha ist Gesetz, oder?«
Leanders Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wir haben hier keine Demokratie.«
»Habe ich auch schon gehört«, erwiderte sie düster, ohne jedoch noch etwas hinzuzufügen.
Er fragte sich, was Morgan ihr wohl auf der Fahrt vom Flughafen erzählt hatte. Vermutlich nichts Gutes.
Er blieb neben einer niedrigen Hecke aus Rosmarin stehen und drehte sich zu Jenna um. »Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.«
»Noch etwas? Nur das eine?«, erwiderte sie und blickte auf den Wald, der hinter den Hügeln und Tälern begann, welche vor ihr lagen. Nur wenige Schritte nach den Bäumen wurde es so dunkel wie am frühen Morgen. »Wie beruhigend. Ich hatte schon gedacht, dass es mehr als eine Sache gibt, die ich noch wissen müsste. Wenn es natürlich nur noch eines gibt, dann finde ich das sehr
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