Nachtjaeger
nicht lange«, fuhr er fort, da sie weder sprach noch sich bewegte. Er musste etwas tun, um sich davon abzuhalten, sie in seine Arme zu ziehen. »Er verweigerte jegliche Nahrung, jegliches Wasser. Er weigerte sich … eingesperrt zu sein.«
Das stimmte. Leander konnte Rylan noch vor seinem inneren Auge sehen, wie er in Ketten gelegt und mit trotzigem Gesichtsausdruck kurz vor dem Tod seinen Vater und den ganzen Rat anschrie, dass sie zur Hölle fahren könnten. Er würde nichts ändern, selbst wenn er noch einmal die Gelegenheit haben würde.
Leander war damals im schwierigen Alter von achtzehn Jahren gewesen und hatte bereits gewusst, dass er eines Tages seinem Vater als Alpha folgen würde. Rylan hatte einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm hinterlassen, und er hatte sich oft in den darauffolgenden Jahren gefragt, was es für ein Gefühl war, eine Frau derart zu lieben, dass man bereit war, sein eigenes Leben hinzugeben, nur um sie zu schützen.
Schockartig, als ob er nackt in einen Weiher eiskalten Wassers gestoßen worden wäre, erkannte er, dass er das endlich zu begreifen begann.
»Deswegen waren wir also immer auf der Flucht«, sagte Jenna mit zitternder Stimme, die ein wenig schrill klang. »Weil ihre Liebe verboten war. Weil ich verboten war.« Sie räusperte sich, und die rosa Flecken auf ihren Wangen wurden dunkler, während das Blut zugleich überall sonst aus ihr zu weichen schien. Sie wirkte bleich wie ein Gespenst. »Du willst mir also sagen, dass wir die ganze Zeit, jeden Tag meiner Kindheit, damit beschäftigt waren, vor dir wegzurennen?«
Leander hatte einige Erfahrungen mit Frauen gemacht. Also wusste er, nach dem Ton ihrer Stimme und dem Blick in ihren Augen zu urteilen, dass er jetzt sagen konnte, was er wollte – es wäre nie die richtige Antwort gewesen. Nichts, was er sagen könnte, konnte ihr in ihrem Leid helfen. Nichts würde sie auffangen oder ihr das geben, was sie brauchte.
Also nahm er seinen momentanen Kontrollverlust als etwas Unausweichliches hin – wie eine bittere Pille, die er schlucken musste – und sprach die Wahrheit.
»Dein Vater war ein sehr mutiger Mann, ein Mann, den ich bewundert habe. Ein stolzer Mann mit Werten. Ein Mann, dem man Ehre gebieten musste. Es gefiel mir nicht, was man ihm antat. Aber ich war damals noch jung und machtlos. Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Und das Gesetz ist gnadenlos. Was dein Vater getan hat, war verboten. Wenn wir auch nur eine Ausnahme gestatten, riskieren wir, dass unsere Art zu leben, unsere Existenz zerstört wird. Das ist unser Dasein. Wir müssen im Geheimen leben. Wir müssen zusammenbleiben. Wir müssen dem Gesetz gehorchen.«
Er holte tief und langsam Luft »Oder wir müssen sterben.«
Sie starrte ihn an. Ihre Lippen standen noch immer leicht offen, als ob sie etwas Hartes im Mund hätte, das sie nicht herunterzuschlucken vermochte. Er hatte das Gefühl, dass sie unter einem unglaublichen Druck stand, als ob sich ihre Haut über ihren Muskeln und Knochen enger zusammenziehen würde. Als ob sie eine unsichtbare Rüstung anlegte.
Ihre Augen wurden schmaler. »Er wurde nicht nur eingesperrt. Nicht wahr, Leander? Er starb keines natürlichen Todes.«
Er wollte lügen. Mein Gott, wie sehr er sie anlügen wollte, aber er konnte es nicht.
»Nein.«
Ihr Körper erstarrte zu völliger Regungslosigkeit. Sie schien nicht einmal mehr zu atmen. »Sag es. Sag es einfach. Erzähl mir, was passiert ist.«
»Jenna …«
»Sag es!«, zischte sie ihn an.
Der Ausdruck in ihrem Gesicht schmerzte ihn so sehr, als ob er mit einem Schwert durchbohrt worden wäre. Einen Augenblick überlegte er, wog ab. Er wusste, dass er damit sein Schicksal besiegeln würde. Danach würde sie ihn wirklich hassen. Aber sie verdiente es, die Wahrheit zu kennen. Wenn die Wahrheit alles war, was er ihr jemals geben konnte, selbst wenn es bedeutete, dass sie nie mehr mit ihm sprechen würde, dann sollte das so sein.
»Er wurde hingerichtet«, sagte er leise, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Ihre Nasenflügel bebten, doch sie sprach weder ein Wort noch bewegte sie sich. Sie wartete darauf, dass er fortfahren würde, und beobachtete ihn dabei aus diesen riesigen, schönen Augen. »Man hat … Man hat zuerst andere Dinge mit ihm gemacht. Aber schließlich …«
»Schließlich?«, hakte sie nach, als er abbrach.
Er wollte sie an sich ziehen und sein Gesicht in ihren Haaren vergraben. Er wollte sie um Vergebung bitten, um die Chance, es irgendwie
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