Nachtjaeger
weinen konnte, sondern ganz und gar in Nebel eingehüllt war. Sie war auch froh, dass sie weder ihren Herzschlag noch ihr Inneres spüren konnte, das sich völlig verkrampft hatte.
»Wenn sie dich jemals finden, dann lauf weg«, hatte ihre Mutter immer wieder betont. Das erste Mal hatte sie Jenna diesen Rat gegeben, nachdem ihr Vater wenige Monate zuvor verschwunden war. Inzwischen war das viele Jahre her.
»Wer soll mich finden?«, hatte sie damals gefragt. Sie hatte aufgehorcht und das Programm, das sie sich gerade im Fernsehen in ihrem Wohnzimmer angesehen hatten, nicht mehr beachtet. Stattdessen hatte sie sich ihrer Mutter zugewandt, die aus dem Fenster starrte. Der Blick ihrer Mutter war panisch durch den Garten gewandert, als ob sie jeden Moment erwartete, dass jemand aus dem Gebüsch springen würde. Sie hielt ein großes Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in der Hand, und selbst von der Entfernung, in der sich Jenna zu ihrer Mutter befand – sie saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden –, konnte sie den Alkohol riechen.
»Es war zu spät für mich, als ich herausgefunden habe, was er ist«, antwortete sie rätselhaft, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Ich hatte mich bereits in ihn verliebt. Es war eine echte Romeo-und-Julia-Geschichte, unsere Liebe schlug ein wie ein Blitz. Alle waren gegen uns.« Sie nahm einen großen Schluck und presste dann das Glas mit den klirrenden Eisstücken an die Stirn. Langsam schloss sie die Augen. »Nicht, dass ich etwas daran ändern würde«, flüsterte sie. »Selbst wenn ich könnte – ich würde nichts anders machen.«
»Mom?«, fragte Jenna. Ihr machte das unverständliche Gemurmel ihrer Mutter und der düstere, verzweifelte Ton ihrer Stimme Angst. Ihre Mutter wandte sich vom Fenster ab. Jenna bemerkte zum ersten Mal die tiefen Linien um ihren Mund, die Falten zwischen ihren Augenbrauen, die Zeichen und Male, welche Furcht und Trauer in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Obwohl sie zerbrechlich und krank war, strahlte sie doch noch immer eine große Schönheit aus. Sie besaß eine statuenhafte Eleganz und eine lange Mähne blonder Haare, die sie von ihrer eigenen Mutter geerbt und an Jenna weitergegeben hatte.
»Und kein Sport mehr«, sagte sie abrupt. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr verzweifelt, sondern entschlossen. »Kein Turnen, kein Fußball, kein Laufen. Du darfst es nicht riskieren, aufzufallen. Du musst dich anpassen. Du musst so tun, als wärst du wie alle anderen …«
»Aber ich habe einen Preis beim Laufen gewonnen«, protestierte Jenna und sprang auf. »Und beim Turnen auch! Ich bin viel besser als die anderen Mädchen!«
»Ach, mein Schatz«, sagte Jennas Mutter, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Das liegt daran, weil du nicht wie die anderen Mädchen bist. Du wirst nie so sein wie sie.«
Ihre Worte hatten etwas Prophetisches und machten Jenna sprachlos. Sie stand da und sah ihre Mutter an – groß und blond und blass, genau wie sie. Doch auch eine gebrochene Frau. Sie merkte, dass es in ihrem Gespräch um Entscheidendes ging.
»Wie bin ich denn dann?«, fragte sie, auch wenn sie die Antwort bereits kannte.
Eine einsame Träne lief über die Wange ihrer Mutter. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sie wegzuwischen. »Du bist wie dein Vater«, sagte sie. Die Verzweiflung war in ihre Stimme zurückgekehrt. »Du siehst aus wie ich, aber du bist wie er – stark und schnell und … anders. Und wie ihn wird man auch dich verfolgen. Also musst du lernen, so zu tun, als wärst du eine andere. Du musst dich verstellen, denn ich werde nicht immer da sein, um dich zu beschützen.«
Es gab nichts, was Jenna, die noch so jung war, auf diese Warnung hätte vorbereiten können. Es war nicht nur der Gedanke, dass ihre Mutter sie eines Tages verlassen oder sich aus anderen Gründen nicht mehr um sie kümmern könnte, oder die Tatsache, dass sie ihrem Vater ähnelte, den sie abgöttisch verehrte, sondern auch die Warnung, dass man sie jagen würde.
Wie ihn.
Ihr Vater wurde gejagt. Ihr ganzer Körper erstarrte vor Entsetzen.
»Was ist mit ihm passiert?«, flüsterte sie. Sie hatte schreckliche Angst, dass ihr ihre Mutter diesmal die Wahrheit sagen würde, aber sie tat es nicht. Sie trank nur einen weiteren Schluck aus ihrem Glas und drehte sich dann wieder zum Fenster. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie antwortete.
»Er ist von uns gegangen, und er wird nicht zurückkommen«, sagte sie.
Jenna hatte noch nie eine derart
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