Nachtjaeger
wieder besser zu machen. Doch das war nur ein eitler Wunsch. Das wusste er. Er holte tief Luft und wappnete sich vor dem, was jetzt kommen würde.
»Ein Vollblut-Ikati kann für immer seine Tierform behalten, wenn er das will. Denn tief im Inneren sind wir das: Tiere. Das ist unser wahres Wesen. Unsere menschliche Form ist nur eine Verkleidung, eine clevere Anpassung, die es uns gestattet, Seite an Seite mit unseren Feinden zu existieren – die es uns gestattet zu überleben. Wir können unsere Form als Mensch oder auch als Nebel hingegen nur eine Weile behalten.« Er holte erneut tief Luft und überlegte, welche Worte er als Nächstes wählen sollte. »Tage, vielleicht Wochen, wenn man stark genug ist. Aber irgendwann muss man sich wieder zurückverwandeln. Und wenn man das tut …«
Er stand hilflos da und führte einen inneren Kampf mit sich aus, während er sich erinnerte.
»Obwohl man ihm verboten hatte, es zu tun, verwandelte sich dein Vater in Nebel, um die Schmerzen zu ertragen, die er auf einer Foltermaschine zu erleiden hatte. Man nennt sie Furiant.«
Jenna gab einen leisen, entsetzten Laut von sich. Jetzt war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Sie presste eine zitternde Hand vor den Mund.
»Man fing ihn als Nebel ein und steckte ihn in eine Kiste. Es war eine spezielle Stahlkiste, die sich verschloss, sobald dein Vater drin war. Er konnte nicht mehr entkommen.« Seine letzten Worte waren beinahe ein Flüstern. »Es war eine sehr kleine Kiste.«
Ihre Lippen öffneten sich. Er sah, wie ihr Puls in ihren Schläfen pochte. »Als er sich schließlich zurückverwandeln musste …«
Weitere Erklärungen waren nicht nötig, doch Leander nickte trotzdem.
Jenna trat einen Schritt zurück und stand da, noch immer eine Hand auf den Mund gepresst, die andere nun auf ihrem Herzen. Sie starrte ihn wankend an. Ihre Augen schimmerten feucht vor Tränen. Sie brauchte mehrere Minuten, ehe sie sprach.
»Weißt du, was ich glaube?«
Ihr Ton klang so kalt, dass er fast die Eiszapfen sehen konnte, die sich um ihre Worte gebildet zu haben schienen und nun in Abertausenden von Splittern auf den Boden zu ihren Füßen zerschellten.
»Nein.«
»Ich glaube, dass es vielleicht besser ist zu sterben, als so zu leben, wie ihr es tut«, fuhr sie ihn an. Ihre Augen leuchteten unheimlich in ihrem bleichen Gesicht. Sie wirkte wie versteinert. »Sich wie Flüchtlinge zu verstecken, eingesperrt in diesem goldenen Käfig.« Mit einer ausladenden Geste wies sie auf die Umgebung – die weiten Rasenflächen, die Gärten, den nebligen Wald und das riesige Haus hinter ihnen. »Sich gegeneinanderzustellen, auf diese grauenvolle, grausame Weise, nur um diesem absurden Gesetz gerecht zu werden. Ich finde es zum Kotzen. Ich finde dich zum Kotzen!«
Unter seinem Schlüsselbein breitete sich auf einmal ein Schmerz aus, als ob ein Nagel in ihn geschlagen wurde. Er machte zwei Schritte auf sie zu, um ihr näher zu sein. »Jenna …«
»Nein«, sagte sie, holte zitternd Luft und wich zurück. »Wag es ja nicht.«
Jenna verwandelte sich in Nebel, als er die Hand nach ihrem Arm ausstreckte, sodass er ins Leere griff. Hilflos beobachtete er, wie ihr Baumwollkleid zu Boden glitt. Einer zurückgelassenen, gespenstischen Hülle gleich lag der rosafarbene Stoff stumm und voller Trauer auf dem taufeuchten Gras.
14
Jenna flog wie ein Geschoss in die kühle Geborgenheit des Waldes. Sie hatte sich noch nie zuvor auf diese Weise bewegt. Sie hatte es gar nicht für möglich gehalten. Nichts anderes als die animalische Kraft ihres Willens ließ sie durch das Dickicht der riesigen Bäume dahinschießen. Sonnenstrahlen fielen von oben herab. Sie flog wie ein Pfeil dahin – voller Zorn und mit einer solchen Verzweiflung, dass sie sich selbst kaum darin wiedererkannte.
Ihr Vater … Dieser Abschaum hatte ihn getötet.
Sie schoss, geleitet von einem Urinstinkt, dahin – durch nebelige Luft, durch warme Sonnenstrahlen, vorbei an taufrischen Ästen. Dabei scheuchte sie eine Gruppe Hirsche auf, die panisch flüchtete, und ließ so manches Eichhörnchen verblüfft zurück. Sie raste über umgefallene Baumstämme und moosbewachsenes Farngestrüpp, stürmte durch herabgefallenes Laub, das sie aufwirbelte und in alle Winde verstreute. Dann durchschnitt sie ein zartes, taufeuchtes Spinnennetz und spürte, wie die seidigen Fäden an ihr klebten, bis sie, einer nach dem anderen, wieder von ihr gerissen wurden.
Sie war froh, dass sie in diesem Moment nicht
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