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Nachtjaeger

Nachtjaeger

Titel: Nachtjaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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gequälte Stimme gehört. Ihre Mutter trank den letzten Schluck und stellte das Glas auf das Fensterbrett. Sie starrte darauf, durch es hindurch, als ob sie gar nicht sehen würde, was vor ihr war.
    Jenna sank auf die Knie. Sie zitterte so sehr, dass sie nicht mehr aufrecht zu stehen vermochte. Ihre Wangen waren heiß und feucht, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie weinte. »Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?«
    »Wenn du älter bist«, erwiderte ihre Mutter mit einer unheimlichen, wie tot klingenden Stimme. Sie starrte noch immer auf das Glas. »Ich werde es dir erzählen, wenn du älter bist.«
    Dieses Versprechen wurde nie erfüllt. Und jetzt flog Jenna wie der Wind durch einen Wald, der einmal ihrem Vater gehört hatte. Sie floh vor der Antwort auf eine Frage, die fünfzehn Jahre lang wie ein Krebsgeschwür unkontrolliert an ihr genagt und sie gequält hatte.
    Sie schoss viele Kilometer weit, hinweg über urtümliches Dickicht, bis sie schließlich müde war.
    Erschöpft glitt sie auf der rauen Rinde eines Bäumchens entlang und sammelte sich dann als feuchter Dunst in einer Astgabel. Sie lauschte den Geräuschen des Waldes. Blätter raschelten, Äste knackten, Eichhörnchen piepsten, winzige Füße liefen kratzend über den Erdboden unter ihr. Ein Rotkehlchen ließ sich auf einem Ast über ihr nieder und begann zu zwitschern, wobei sich sein Federkleid während des Gesangs aufplusterte.
    Jenna wusste nicht, was sie tun sollte. Sie vermochte kaum einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte sich so sehr nach Antworten gesehnt und stets das Gefühl gehabt, dass alles ins rechte Lot käme, wenn sie nur die genauen Details ihrer Vergangenheit kennen würde. Wenn sie nur das Warum, das Wie und das Wann kannte. Doch selbst diese eine Information, die sie jetzt von Leander bekommen hatte, hatte ihr nicht geholfen, ihre Welt in Ordnung zu bringen. Im Gegenteil, sie hatte sie noch mehr durcheinandergewirbelt.
    Hingerichtet. Eine sehr kleine Kiste. Der Gedanke ließ das Rotkehlchen über ihr verschwimmen. Der Vogel war jetzt nur noch ein bunter Fleck in einem düsteren Nebel. Sie schoss zu dem Zweig hoch und hielt sich an der Rinde fest, als sie ihr Gleichgewicht verlor. Das Rotkehlchen flog entsetzt auf und verschwand im Wald.
    Jenna stieg durch das Baumkronendach, um über die Bäume hinwegzublicken, die sich kilometerweit grün und dicht ausbreiteten. In der Ferne entdeckte sie eine Ruine, die neben einem Felsen stand, der von Flechten übersät war. Sie ließ sich ein wenig herab und machte sich in diese Richtung auf. Es handelte sich um eine alte Steinhütte, deren Fenster herausgeschlagen waren. Das Dach war zum Teil eingestürzt und stark überwuchert. Die Ruine, die von Efeu und blauer Klettertrompete umhüllt war, sah genauso verloren und einsam aus, wie Jenna sich fühlte. Sie wirbelte herab und verwandelte sich neben einer niedrigen, eingefallenen Wand wieder in eine Frau. Einen Moment zögerte sie. Alle Sinnesregungen kehrten zurück. Ihr Herz begann wieder zu schlagen, und der Duft nach wilder Minze und Zedernharz stieg ihr in die Nase. Ihre nackte Haut wurde kühl, als ein eisiger Windhauch sie erfasste.
    Sie hielt sich mit einer Hand an der rauen Steinmauer fest, um nicht zu stürzen. Dann fiel sie auf die Knie und übergab sich.
    Als sie schließlich nichts mehr im Magen hatte, wischte sie sich die feuchten Augen und die Nase mit dem Handrücken ab und spuckte aus. Eine Weile kniete sie so und starrte auf einen kleinen Haufen toten Laubs neben ihr. Sie spürte die feuchte Erde unter ihren Fingern und kalten Boden unter ihren nackten Knien.
    Langsam füllte sie die Lunge mit frischer Luft. Sie zwang sich, das immer und immer wieder zu tun. Als sie schließlich glaubte, wieder gleichmäßig atmen zu können, richtete sie sich auf und ließ die Erde in ihrer Hand zu Boden rieseln.
    Die Hütte war dunkel. Hier war es noch kühler als im Wald. Als sie eintrat, schlang sie die Arme um ihren nackten Körper, um sich zu wärmen. Ein Großteil des Steinbodens war von Gräsern und Efeu bewachsen, aber in einer Ecke, dem eingestürzten Dach gegenüber, war noch eine schwarze Feuerstelle zu sehen. Daneben befanden sich eine Laterne und eine grobe Wolldecke sowie ein Kissen. Jemand musste hier vor langer Zeit einmal Zuflucht gefunden haben. Alles war von einer feinen Schicht Staub überzogen.
    Zitternd nahm Jenna die Decke, schüttelte sie aus und wickelte sie sich um den Körper. Sie fühlte sich rau und

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