Nachtjaeger
Morgan an. »Du darfst ihnen nichts davon erzählen. Dass du das glaubst und so.«
Morgans Mund klappte fassungslos auf. »Mach dich doch nicht lächerlich! Weißt du denn nicht, was das für dich bedeutet? Du wirst in der Lage sein …«
»Versprich es mir«, unterbrach Jenna. Sie lehnte sich vor und nahm Morgans Hand. »Versprich mir, es niemandem zu sagen.«
»Jenna! Ich muss es ihnen sagen! Du hast keine Ahnung, wie wichtig du für uns bist – für mich …«
»Nein!«
»Warum um Himmels willen nicht?«, wollte Morgan indigniert wissen.
Jenna ließ Morgans Hand los und lehnte sich wieder zurück. Sie holte tief Luft und blickte über Morgans Schulter hinweg durch das Fenster. Der Himmel zeigte nun ein tiefes Azurblau. »Weil ich das nicht sein will. Ich kann es nicht sein.«
»Aber«, sagte Morgan überrascht, »warum nicht?«
Jenna massierte sich den Nasenrücken. Sie hasste die Erinnerung, die jetzt in ihr aufstieg. Verzweifelt versuchte sie, ihre Stimme so monoton wie möglich klingen zu lassen. Zumindest ihre Stimme konnte sie kontrollieren. Im Gegensatz zu den Qualen ihres Herzens. Im Gegensatz zur Vergangenheit.
»Nachdem mein Vater verschwunden war, trank meine Mutter sich langsam zu Tode. Sie brauchte acht Jahre dafür. Es war nicht schön, und ich war hilflos. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe täglich gebetet, dass das, was sie so krank machte und ihr solche Angst einflößte, endlich aufhören würde. Ich glaube, sie war wortwörtlich zu Tode geängstigt. Durch die Vorstellung, wer ihr da ständig folgte, durch die Vorstellung, wer oder was sie tot sehen wollte.« Sie blickte Morgan an. »Die Ikati. Und jetzt erklärst du mir, dass ich angeblich … Was? Die Anführerin bin? Das Oberhaupt jener Leute … jener Tiere, die sie umgebracht haben? Derjenigen, die meinen Vater töteten?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Niemals. Das wird nie passieren.«
Morgan sah sie einen langen Moment mit ernster Miene an. »Es tut mir leid, das mit deiner Mutter zu hören«, sagte sie leise. »Das habe ich nicht gewusst. Ich wusste nur – so hat man uns das allen erzählt –, dass dein Vater die Kolonie wegen einer Menschenfrau verließ und ein Kind mit ihr bekam. Und dann hat er …« Sie befeuchtete ihre Lippen und zögerte weiterzusprechen. »Und dann hat er …«
»Sich selbst geopfert, um uns zu retten«, beendete Jenna den Satz.
»Ja, das hat er offenbar getan. Aber er wusste genau, was er tat. Er liebte diesen Ort«, erklärte Morgan sanft. »Er liebte sein Volk, seine Stellung, unsere Lebensweise. Er verließ Sommerley nicht, weil es schlecht war. Er verließ es, weil er nicht haben konnte, was er wollte, wenn er geblieben wäre. Wegen des Gesetzes. Aber du kannst alles haben, was du willst, Jenna. Begreifst du denn nicht? Weil du so bist, wie du bist, kannst du gehen oder du kannst bleiben. Du kannst all das haben, wonach ich mich mein ganzes Leben gesehnt habe.«
Morgan lehnte sich vor und nahm vorsichtig Jennas Hand in die ihre. Einen Moment lang hielt sie sie fest.
»Und das wäre?«
»Freiheit«, hauchte sie. »Du kannst deine Freiheit haben.«
Jenna erinnerte sich wieder an Morgans Worte, die sie am Abend ihrer Ankunft so eindringlich in der Limousine ausgesprochen hatte: Es geht eher darum, was wir versuchen, nicht rauszulassen.
Jennas Körper fühlte sich vor Müdigkeit so schwer an, dass sie das Gefühl hatte, durch die Matratze direkt auf den Boden sinken zu können. Das Bedürfnis zu schlafen schien so unwiderstehlich wie die Anziehungskraft des Mondes auf die Gezeiten. Noch einen Moment länger kämpfte sie dagegen an.
»Die hatte ich bereits, Morgan. Die habe ich bereits, und es gibt nichts, das mich hier gegen meinen Willen festhält. Ich mache da nicht mit. Ganz gleich, was Leander und der Rat oder sonst jemand auch versuchen mag – ich werde nicht mitmachen.« Sie sah Morgan blinzelnd an. Ihr Gesicht verschwamm immer wieder vor ihren Augen. »Und ich glaube auch nicht, dass du in Wirklichkeit mitmachen willst. Ich glaube, dass dir dieser ganze Macho-Scheiß bis hier steht.«
Morgan drückte erneut ihre Hand. Ihr Gesicht verschwamm wieder vor Jennas Augen, als sich die Erschöpfung wie langsam härter werdender Zement durch ihre Muskeln ausbreitete.
»Versprich mir also, dass du ihnen nichts erzählen wirst. Jedenfalls nicht für den Moment. Nicht ehe ich herausgefunden habe, wie es sich vermeiden lässt – oder wie ich es schaffe, hier wegzukommen.
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