Nachtklinge: Roman (German Edition)
führte Alonzo den deutschen Prinzen zu seinem Platz, die Hand fürsorglich an dessen Ellbogen gelegt. Der junge Mann wirkte nervös, die Dogaressa beunruhigt. Sie ließ sich widerstrebend nieder. Ihr Gesicht unter dem Schleier war nicht zu erkennen.
Alle hatten sich erwartungsvoll der Tür zugewandt. Man wartete jedoch vergebens. Nach einer Weile schlossen sich die breiten Türflügel. Alonzo funkelte seine Schwägerin böse an, beherrschte sich aber in Gegenwart des deutschen Prinzen. Anscheinend hatte man Giulietta nicht dazu bewegen können, aus ihrem Zimmer zu kommen.
Enttäuschte Stille senkte sich über die Gäste. Dann entdeckte Tycho, wonach er gesucht hatte. Hinter einem der drei Wachposten, die sich am Fenster zur
piazzetta
aufgestellt hatten, erspähte er den Schatten eines Langbogens. Nicht mehr lange, und drei Frauen würden Witwen sein.
»Wir müssen ihren Anführer finden.«
Rosalie taxierte bereits die Anwesenden. Tycho konnte ihre Konzentration spüren.
Plötzlich standen die Wachposten neben der Eingangstür stramm. Erneut klirrten Hellebarden. Einer der drei verdächtigen Wachleute zog sich tiefer in den Schatten zurück. Er nahm einen langen Pfeil zur Hand und entfernte eine lederne Kappe von der Spitze.
Offenbar war sie vergiftet.
Er griff nach dem Langbogen und gab seinen Begleitern ein Zeichen. Sie sahen sich prüfend nach ungebetenen Zuschauern um und nickten.
Während die Geräusche auf dem Korridor lauter wurden, legte der Schütze langsam den Pfeil ein.
47
I m Korridor vor dem Saal drehte sich Giulietta zu ihrem lächelnden Cousin um und sagte: »Das Traurige ist, dass du im Grunde kein Wort von dem verstehst, was ich sage, nicht wahr?«
Der Doge nickte begeistert und drehte sich zu dem römischen Löwen um, der sich seit der Verwüstung Konstantinopels vor zweihundert Jahren in Venedig befand – wie die meisten Schätze des Dogenpalasts. Er streichelte zärtlich den steinernen Kopf und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn.
»Ich frage mich, warum ich überhaupt mit dir rede.«
»Weil du s-sonst keinen hast?« Die Stimme ihres Cousins klang fester, klar und mitfühlend. »Wir sind einander r-recht ähnlich, weißt du.«
Sie sah ihn entgeistert an.
Einen Augenblick hatte Marco völlig normal ausgesehen, ohne ein Zucken an seinem Auge, ohne schiefen Mund, aus dem ein Speichelfaden hing, ohne sich im Schritt zu kratzen. Er stand aufrecht da und erwiderte ihren Blick. Weder die Wachen hinter ihm noch die Wachen an der Eingangstür konnten die plötzliche Veränderung sehen.
»Ich h-habe manchmal k-klare Momente.«
»Tut mir leid«, sagte Giulietta verlegen. »Ich wollte dich nicht …«
Sogar jetzt muss ich alles vermasseln,
dachte sie.
Ich will nicht hier sein. Ich will nicht in diesen Saal gehen. Ich will nicht einmal zurück in die Ca’ Friedland.
»Jeder braucht ein Alta M-Mofacon«, stimmte Marco zu, obwohl Giulietta kein Wort gesagt hatte. »Immerhin bist du besser dran als ich. Ich habe keinen Ort, an dem ich mich verstecken kann.«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an.
»Ich muss mich in meinem Kopf v-verstecken.«
»In deinem Kopf?«
»Wo sonst? Ich kann nicht fort. Ohne das Einverständnis der beiden Regenten und des Großen Rats darf ich Venedig nicht v-verlassen. Also zucke und sabbere ich, ich bringe meinen betrunkenen Onkel zur Weißglut und meine Mutter zur Verzweiflung. Er hat keine Ahnung, und sie würde es nicht glauben. So habe ich überlebt.«
»Du spielst das alles nur?«
Marco zuckte die Schultern. »Nicht alles, aber ich schmücke meinen Zustand ein bisschen aus. Du hast Wutanfälle und Tränenausbrüche, ich habe Zuckungen.«
»Aber warum?«
»Alonzo hat mich beinahe umgebracht, als ich noch klein war.«
»Dann war es kein Fieber, das dir damals angeblich den Verstand geraubt hat?«
»Alonzo steckt dahinter. Ich habe selbst gesehen, wie er das Gift in meinen Becher getan hat.«
»Alle halten es für ein Wunder, dass du damals überlebt hast.« Und überlebt hast du nur, weil deine Mutter eine Hexe ist, fügte sie stillschweigend hinzu.
»Ich weiß, was die Leute reden«, erwiderte Marco und schien schon wieder zu hören, was sie dachte. »Sie hat Tag und Nacht an meinem Bett gewacht. Alonzo hat gewartet, ob ich ihn verrate, aber ich habe den Mund gehalten und bin stattdessen zu Marco dem Dummkopf geworden.«
»Oder auch zu Marco dem Harmlosen?«
Er streckte die Hand aus, strich ihr zärtlich über die Wange und wickelte sich
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