Nachtklinge: Roman (German Edition)
eine ihrer Haarsträhnen um den Finger. Dann küsste er sie sachte auf den Mund. Die Wachposten sahen geflissentlich weg. »Schade, dass wir Cousins sind«, antwortete er. »Oder dass ich kein anderer bin. Du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr? Sonst hätte ich d-dir niemals die Wahrheit über mich gesagt.«
Giulietta liefen die Tränen übers Gesicht.
»Du l-liebst mich nicht, aber Frederick liebst du auch nicht. Du k-kennst ihn ja nicht einmal. Leopold hast du natürlich geliebt, obwohl das auch nicht gerade einfach war, oder? Er hat nicht mit dir g-geschlafen.«
»Wie kannst du das wissen?«
Marco zuckte die Achsel. »Das war doch offensichtlich.«
Die Wellen hinter dem Molo schäumten dunkel, durch das Fenster strömte die kalte, salzige Meeresluft herein. Sie roch die Feuerstellen auf der Piazza bis hierher. Starr auf die vertraute Ansicht blickend, blinzelte Giulietta die Tränen weg.
»Liebste …«
Nie zuvor hatte er sie so genannt, das schickte sich nicht.
»Verstehst du, warum Sigismund die Ehe zwischen dir und F-frederick anstrebt? Ich werde keine Kinder haben, und dein Kind wird eines Tages das Doganat übernehmen. Nach dem Tod meiner Mutter wirst du Regentin sein und Frederick Regent.«
»Warum wirst du keine …« Sie brach verlegen ab.
»Ich weiß nicht einmal, ob ich dich auf diese Art lieben könnte. Vielleicht eher Leopold oder deinen schönen Engel. Wenn er nicht so verrückt nach dir wäre.« Marco lächelte wehmütig. »Ich habe schon immer gewusst, was du für ihn empfindest.«
»Deswegen hast du Tante Alexa gebeten, uns nebeneinander zu setzen?«
»Du meinst vor einiger Zeit beim S-siegesbankett? Ihr solltet euch versöhnen, aber e-es hat nicht geklappt, oder?« Marco verzog das Gesicht.
»Leopold …«
»War längst t-tot. Er hätte außerdem sowieso Tycho als Liebhaber vorgezogen.«
Giulietta fragte sich, was Marco in ihrem Blick las. Er tupfte ihr die Tränen ab und zog sie an sich.
»Sei glücklich. Glücklich und tapfer.«
»Marco …«
»Meistens wünsche ich, ich wäre ein anderer und mein Vater wäre nicht ermordet worden. Er hätte noch mehr Söhne haben können, und der Große Rat hätte einen meiner Brüder zum Dogen ernannt.«
»Dein Vater wurde ermordet?«
»Wusstest du das nicht?«
»Wer würde es wagen, den Dogen …«
»Mein Onkel natürlich«, erklärte Marco im Plauderton. Ihre Überraschung schien ihn zu verblüffen. »Er hatte eine Affäre mit meiner Mutter«, setzte er erläuternd hinzu.
»Das ist ausgeschlossen.« Giulietta blickte ihn fassungslos an und wartete darauf, dass er alles zurücknahm. Doch als er ihr das Gesicht zuwandte, sah es schief aus und ein Auge zuckte. Sie blickte auf und bemerkte, dass Graf Roderigo sich näherte. Marco trat auf einen Marmorfaun zu und legte ihm zärtlich die Arme um den Hals.
»Ihr seid eingetroffen, Prinzessin.«
»Es sieht ganz danach aus.«
Roderigo lief vor Ärger rot an. »Darf man fragen, worauf Ihr wartet?«
»Ich warte auf den Dogen.«
Plötzlich ließ Marco den Marmorfaun los, griff hastig nach Giuliettas Hand und zog sie zum Bankettsaal.
»Wir sind s-spät dran. Mutter m-mag es nicht, wenn ich …«
Die Garde öffnete feierlich die schweren Türflügel, als plötzlich ein junges Mädchen in schmutzigem Gewand mit einem Salto auf den Dogen und Giulietta zuwirbelte. Sie riss beide zu Boden und schmetterte die Tür zum Saal mit einem Tritt hinter sich ins Schloss.
Knurrend zerrte sie das Paar von der Tür weg und schob beide hinter den Marmorfaun. Als Roderigo heranschnellte, löste sie ein Messer aus dem Gürtel, zeigte die Zähne und baute sich fauchend über ihren Gefangenen auf.
»Halt«, donnerte Marco.
In diesem Augenblick begriff Roderigo, dass das Mädchen die beiden beschützte.
48
K urz bevor Rosalie die beiden in Sicherheit brachte, hatte der Wachposten am Fenster seinen Bogen gehoben, die Augen fest auf die Tür geheftet.
»Marco und Giulietta«, hatte Tycho ihr zugeraunt.
Rosalie war geräuschlos vom Gerüst geglitten, quer durch den Saal gestürmt, hatte mit gerafftem Kleid im Salto über einen Tisch hinweggesetzt und war zwischen den Beinen eines Stelzenläufers hindurchgerutscht.
Die vier echten Palastwachen am äußersten Fenster waren vollauf damit beschäftigt, die angetrunkenen Gäste zu beobachten. Die falschen Wachen am anderen Fenster waren ihnen völlig entgangen.
Kaum ein Gast hatte Rosalies akrobatischen Abgang bemerkt, und wenn, hielt man sie für eine
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