Nachtklinge: Roman (German Edition)
Venedig hinübergeblickt, sobald er sich unbeobachtet glaubte. Er hatte irgendwie enttäuscht gewirkt, als habe er mehr erwartet.
»Es gibt mit Sicherheit keinen Steuermann an Bord?«, fragte Alonzo erstaunt.
»Mit Sicherheit.« Graf Roderigo verneigte sich vor dem Regenten. Dieser rätselhafte Umstand bereitete allen Anwesenden Sorgen.
Die Lagune war der Schutzwall Venedigs, der größte Burggraben der Welt. Nur deswegen konnte man es sich leisten, den Dogenpalast nicht zu befestigen. Ein Vorfahre Sigismunds war mit seiner Flotte in den Schlammbänken der Lagune auf Grund gelaufen, sein gesamtes Heer war niedergemetzelt worden. Ein ums andere Mal hatten Barbaren vergebens versucht, die Stadt zu erobern.
Die Galeere der Byzantiner hingegen hatte den Weg zwischen den tückischen Sandbänken und Untiefen ohne Hilfe gefunden.
Wenn die zerbrechliche Schönheit des Dogenpalasts – das zartrosa- und cremefarbene Mauerwerk, kostbare Marmorsäulen, der elegante Balkon in der Mitte der Fassade, der eine der schönsten Aussichten Europas bot – eine Provokation war, so war dies die Antwort des byzantinischen Kaisers.
»Vielleicht haben sie einen Steuermann entführt«, gab Alonzo zu Bedenken.
Venezianischen Steuermännern drohte die Todesstrafe, wenn sie die Stadt verließen. Dasselbe drohte Glasbläsern, die zu fliehen versuchten. Gelegentlich kam es jedoch zu Entführungen, und es gehörte zu den Aufgaben der Assassinen, entführte Steuermänner zu töten, bevor man ihr Wissen auf Karten festhalten konnte. Alle Steuermänner hatten eine Berufserlaubnis, und die Zunft kontrollierte ihre Tätigkeit.
Alexa wusste freilich, dass kein Steuermann an Bord war.
Sie hatte Andronikos allein an Deck gesehen, hatte gespürt, wie das Echo seiner Magie mächtiger wurde, je näher das Schiff kam. Eine innere Stimme hatte ihm gesagt, in welche Richtung die Galeere steuern musste.
In der Lagune um Venedig gab es ungefähr einhundert Inseln, im Reich des byzantinischen Kaisers mochten es ein- oder sogar zweitausend sein. Der Süden Griechenlands bestand aus lauter meerumschäumten, steinigen Puzzleteilen. Andronikos schöpfte seine Kraft aus dem Meer selbst, genau wie die Kriegshunde des deutschen Kaisers ihre Kraft aus den heimischen Bergen und Wäldern schöpften. Dachten die Menschen denn nie darüber nach, warum Venedig jedes Jahr die Vermählungszeremonie mit dem Meer feierte? Venedig hatte Hilfe bitter nötig.
»Die Schiffe müssen in Quarantäne und …«
Graf Corte war dafür bekannt, dass er Fremde vor allem aus Angst vor ansteckenden Krankheiten fürchtete. Immerhin hatte sein Vater seinerzeit die Pest überlebt, die Geißel Gottes, verheerender als ein Überfall der Mongolen. Mehr als die Hälfte aller Venezianer war damals dem Schwarzen Tod zum Opfer gefallen.
»Selbstverständlich«, sagte Alonzo beruhigend.
»Durchlaucht«, wandte Roderigo ein. »Andronikos weigert sich.«
Die entrüsteten Rufe der Ratsmitglieder hallten von den holzgetäfelten Wänden wider.
»Die byzantinische Flotte ist in dringender Mission unterwegs.« Graf Roderigo schluckte, denn sein nächster Punkt war noch heikler. »Im Gegenzug garantiert Andronikos, dass niemand an Bord eine ansteckende Krankheit hat.«
»Wie zum Teufel kann er das garantieren?«
Roderigo zuckte bei Alonzos aufgebrachtem Ton zusammen. »Das ist noch nicht alles, Durchlaucht. Sobald sich Prinz Nikolaos im Palazzo Ducale, seinem zukünftigen Heim, eingerichtet hat, bietet Graf Andronikos seine Hilfe an, um Gräfin Eleanor zu heilen. Er hat von ihrer Erkrankung gehört.«
»Seinem zukünftigen Heim, Roderigo? Im Palazzo Ducale wohnen keine Gäste, das verstößt gegen unsere Grundregeln. Unter diesem Dach schlafen ausschließlich Millioni.«
Abgesehen von Dienern, dachte Alexa, und, Gott steh’ uns bei, Tycho. Es sei denn, ihr Schwager betrachtete Tycho bereits als Familienmitglied, was eher unwahrscheinlich war.
»Regent …«, setzte Roderigo an.
»Was denn noch?«
»Andronikos ist davon überzeugt, dass wir seine Wünsche erfüllen.«
»Dann werdet Ihr ihn wohl überzeugen müssen, dass er sich irrt.«
Graf Roderigo schluckte erneut.
Der kleine Drache war auf Erkundungstouren unterwegs, genau wie Alexas Flughund; allerdings zeigte er sich meist tagsüber, und das hatte einige Vorteile. Bald war die kleine Echse für alle Bediensteten ein vertrauter Anblick, und sie verwöhnten das Tier mit allerlei Leckerbissen, ohne zu ahnen, dass ihre Freundlichkeit
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