Nachtklinge: Roman (German Edition)
denn?«
Rosalie nickte. »Ich bin ihr einmal begegnet. Sie war sehr freundlich.«
»Wirklich?«
Zumindest bis sie mich in den Tod geschickt hat.
Da Eleanor offenbar der Meinung war, sie stamme aus dem Dorf, sagte Rosalie nichts.
»Zuerst waschen wir dich«, erklärte Eleanor, »und dann suchen wir dir neue Kleider aus. Danach können wir uns in aller Ruhe unterhalten.« Sie goss lauwarmes Wasser aus einem Krug in eine Schüssel, nahm ein Tuch und befeuchtete es. »Wir fangen mit deinem Gesicht an.«
42
D er Karren rumpelte nach Alta Mofacon hinauf, und das Kichern der beiden Mädchen verwandelte sich in Kreischen, als die jüngere von ihrem schwankenden Sitz direkt in den frisch gepflückten Hopfen kippte. Die beiden waren wie beschwipst vom Hopfengeruch, dem Blau des Himmels und den kleinen weißen Wolkenlämmchen.
Der Gutsverwalter hatte sanft protestiert, es schicke sich für Prinzessin Giulietta vielleicht nicht, mit dem Karren zu reisen. Mit treuherzigem Augenaufschlag hatte er jedoch hinzugefügt, wenn es der Wunsch der Prinzessin sei, auf den Feldern zu helfen, sei selbstverständlich nicht das Geringste dagegen einzuwenden.
Zufrieden lächelnd hatte die junge Gutsbesitzerin daraufhin ein schlichtes Kleid angezogen und ein Tuch um ihr rotes Haar gewickelt. Den Silberschmuck trug sie nicht mehr, und die Trauerkleidung war ebenso verschwunden wie ihre schlechte Laune und die plötzlichen Wutanfälle. Eleanor hatte nichts dazu gesagt, dass Giulietta Leopolds Ring abgelegt hatte. Umgekehrt wusste Giulietta, dass Eleanor ihre eigenen Geheimnisse hatte.
Mindestens die Hälfte von Eleanors Kleidern war auf rätselhafte Weise abhandengekommen und ihr Rankenarmband aus Lapislazuli war wie vom Erdboden verschluckt, ja, vielleicht sogar verloren gegangen. Stattdessen fanden sich in ihrem Zimmer plötzlich Orangen, reife Datteln und hübsche, gestreifte Steine, die aussahen, als habe man sie an einem Strand gefunden. Eleanor lächelte viel und zog sich bereitwillig zurück, wenn Giulietta allein sein wollte.
»Ich habe Freunde gefunden.«
Vermutlich unter den Dorfmädchen,
dachte Giulietta.
Innige Mädchenfreundschaften waren in ihrer eigenen Erziehung nicht vorgesehen gewesen, aber warum sollte sie ihrer Cousine das Vergnügen nicht gönnen?
Giulietta verbrachte ihre Nächte in Gesprächen mit Tycho. Er hörte gern zu, war begierig zu lernen. Er stellte Fragen über das Reich des deutschen Kaisers, wie Venedig durch die Handelsrouten reich geworden war, wie die Zukunft des Byzantinischen Imperiums nach dem Tod des Basileus aussehen mochte. Er teilte Giuliettas Meinung, dass Venedig aus der Ferne viel sympathischer wirkte. Vielleicht, dachte Giulietta, würden sie diese Stadt eines Tages sogar lieben, vorausgesetzt, sie müssten nie wieder dorthin zurückkehren.
Warum sollten sie auch? Sie hatten Alta Mofacon.
Der Weizen wurde geschnitten, gedroschen und eingelagert, das Heu eingeholt, das Stroh aufgesammelt. Giulietta ließ Zäune reparieren, Hecken neu pflanzen und für den nächsten Winter Gräben ausheben. Beinahe die Hälfte der terrassierten Hänge war mit neuen Steinmauern gesichert worden. Alle hatten Arbeit. Als der Gutsverwalter in gewohnter Zurückhaltung einwandte, sie könne sich so viel Großzügigkeit nicht leisten, drückte ihm Giulietta ihren Silberschmuck in die Hand und erklärte, er solle Apfelbäume pflanzen und mehr Weizen säen lassen. Sie hatte in Alta Mofacon ihren Geburtstag gefeiert, ließ den Tag aber ohne großes Aufhebens verstreichen.
»Wir sind da«, sagte Eleanor.
Giulietta rutschte von einem Sack Hopfen herunter und griff erst im letzten Moment nach der Seitenwand des Karrens.
»Prinzessin Giulietta …!«
»Nichts passiert.« Sie drehte sich einmal um sich selbst und betrachtete zufrieden die frisch gestrichenen, dunkelroten Mauern ihres Anwesens.
»Gibt es Neuigkeiten?«
Der Haushofmeister sah bekümmert drein.
Wahrscheinlich weil er Angst hatte, ihre sonnige Laune könnte plötzlich umschlagen. Der Spion ihrer Tante hatte sich bereits davongemacht. Wahrscheinlich würde er berichten, wie glänzend es ihr ging und dass die harte Arbeit wahre Wunder gegen den Kummer bewirkt hatte. Tante Alexa würde nicht gern hören, dass ihre Nichte arbeitete, aber das war Giulietta gleichgültig.
»Heraus mit der Sprache«, forderte sie ihn freundlich auf.
»Nicht weit vom Hafen in Monfalcone ist zum dritten Mal ein toter Priester entdeckt worden.«
»Auf meinen
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