Nachtkrieger: Unendliche Sehnsucht: Roman (Knaur TB) (German Edition)
wenn ein Stier sich vor Euren Augen in einen Mann verwandeln würde.«
»Aber er war doch gar kein Mann«, widersprach Eleanor. »Jedenfalls nicht für Europa. Für sie war er ein Gott. Möglicherweise hat sie es als eine Ehre empfunden.«
Es klang so einleuchtend aus ihrem Mund. War es möglich, dass sie etwas Derartiges tatsächlich akzeptieren würde? Gunnars Herz begann zu rasen. Bitte, Odin, bitte!
»Oder sie hat eingesehen, dass sie gegen ihn nichts ausrichten konnte«, warf Mary Ferrers ein. »So wie eine niedrig geborene Frau nichts dagegen tun kann, wenn ihr Lord sie in sein Bett holt. Ein wahrer Gentleman jedoch würde sich eine Frau niemals mit Gewalt zu eigen machen, ungeachtet ihres Rangs.« Sie sah geradewegs Henry Percy an.
»Eine Frau von wahrer Tugend hätte sich mit allen Mitteln gewehrt und notfalls mit dem Leben dafür bezahlt, so wie die heilige Margareta von Antiochia«, sagte Carolus. »Auch in den Erzählungen der Antike wird von solchen Weigerungen berichtet. Die schönen Töchter des Gottes Atlas verweigerten sich Orion dem Jäger sieben Jahre lang, in denen er sie verfolgte«, begann Carolus seine nächste Geschichte.
Nein, nein, nein. Er war dabei, sie in die falsche Richtung zu lenken. Ärger zerriss die letzten Spinnweben, die Gunnars Verstand gefangen genommen hatten. Er wollte nicht, dass Eleanor sich ihm verweigerte. Halt den Mund, alter Mann!
Aber selbstverständlich tat Carolus das nicht, bevor er nicht auch diese Geschichte beendet hatte. »Und am Schluss verwandelte Zeus sie in Sterne, in das Sternbild, das wir heute im Volksmund Henne und Küken nennen, das aber eigentlich unter dem Namen Plejaden bekannt ist, wegen der sieben Schwestern. Noch heute steht es strahlend über uns am Himmel, zu Ehren ihrer Tugendhaftigkeit.« Unvermittelt wandte er sich an Gunnar. »Na, was sagt Ihr zu meinen Geschichten, Monsire? «
Gunnar lag seine Zunge noch immer bleiern im Mund. Abermals schluckte er schwer und sah hinüber zu Eleanor, die nach wie vor lächelte, ohne sich der tieferen Bedeutung bewusst zu sein, die über eine gute Geschichte hinausging.
»Ich glaube, alter Mann, Ihr habt eine Menge geredet.« Gunnar nahm die erstbeste Münze aus seinem Beutel und legte sie dem alten Mönch in die Hand, ohne sie genauer zu betrachten. »Und jemand sollte Euch etwas Bier bringen, um Eure Kehle anzufeuchten.«
Die Zuhörer lachten und klatschten in die Hände, und sogleich schob sich ein Page durch das Gedränge, um einen Krug Bier zu holen. Gunnar stellte sich auf seine noch immer schweren Beine, um sich zu dem Tisch am anderen Ende der Halle hinüberzuschleppen. Dort schenkte er sich einen Becher Wein ein und leerte ihn in einem Zug, um sich sogleich einen weiteren einzuschenken.
»Die Geschichten haben Euch nicht gefallen«, sagte Eleanor, die ihm gefolgt war.
Er leerte auch den zweiten Becher und stellte ihn ab. Dann drehte er sich zu ihr um und präsentierte ihre eine Lüge. »Ich habe sie alle schon gehört.«
»Nein, dass allein kann es nicht gewesen sein.« Sie hielt ihm einen Becher hin, damit er ihn für sie füllte. »Ihr seid ganz blass geworden, als Carolus erzählte, wie Zeus sich in einen Stier verwandelte.«
Seine Hand zuckte, und der Wein schwappte aus ihrem Becher. »Verzeihung.« Er nahm ihr den Becher aus der Hand und schüttete einen Schluck Wein ab, während sie sich die Hand mit einem Lappen trocknete. Fieberhaft suchte er nach einer einleuchtenden Erklärung für sein Verhalten.
»Es waren seine Worte, seine, seine, seine Art zu re-reden.« Hör auf zu stottern, du Idiot! Er gab ihr den Becher zurück und sprach, ohne zu stocken, weiter. »Er hat mich plötzlich an jemanden erinnert, den ich früher einmal kannte, vor langer Zeit. Es war, als hätte ich einen Geist gehört, und es hat mich vollkommen unvermittelt getroffen. Aber es ist schon vorbei.«
Sie zog argwöhnisch eine Augenbraue hoch, aber sie legte es nicht darauf an, ihn herauszufordern. »Da bin ich aber froh. Einen Moment lang dachte ich, Ihr würdet Euch über Carolus’ kahlem Schädel erbrechen.«
Er ließ ein Schnaufen hören, denn unwillkürlich musste er lachen. Sie war der Wahrheit ziemlich nahegekommen, noch immer hatte er den Geschmack von bitterer Galle im Mund. »Vielleicht wären ihm daraufhin wieder Haare gewachsen. Was ist mit Euch …? Hat Euch die Geschichte von dem Mädchen und dem Stier gefallen?«
Sie trank einen Schluck Wein. »Sogar sehr, obwohl es sicher äußerst
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